Janine Berg-Peer/ September 6, 2016/ Alle Artikel, Angehörige, Termine/ 0Kommentare

salzburg5Un-Abhängigkeiten aus Angehörigensicht

Am 29.4.2016 hatte ich die Gelegenheit, bei der Jahrestagung der HpE – Österreich einen Vortrag über das Thema Abhängigkeiten und Un-Abhängigkeiten aus Angehörigensicht zu halten. Er wird demnächst in der Zeitschrift Kontakt des HPE Österreich veröffentlicht. Vielleicht ist der Vortrag aber auch für andere Angehörige interessant. Die PowerPoint-Präsentation dazu hänge ich ebenfalls an.

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Un-Abhängigkeiten aus Angehörigensicht

Vorweg: Ich verwende im Text meist die Beziehung zwischen Eltern und psychisch erkrankten Kindern, wenn ich von emotionaler Abhängigkeit spreche. Es sind aber auch alle anderen Angehörigen/Betroffenen-Beziehungen (d.h. Geschwister, PartnerInnen, Kinder) mitgemeint.

Ich bin seit 56 Jahren Angehörige, da meine Mutter an einer bipolaren Störung litt. Meine Mutter sagte immer, es handelt sich bei ihrer Erkrankung um eine endogene Erkrankung und sie wollte damit sagen, dass sie nichts dafür kann, diese Erkrankung zu haben. Ich habe das damals nicht verstanden. Heute finde ich es erschütternd, wie stark psychische Erkrankungen mit Schuld und Scham besetzt sind, dass ein Mensch sagen muss: „Ich kann doch nichts dafür.“

Meine Tochter leidet an einer schizo-affektiven Erkrankung. Inzwischen geht es ihr richtig gut und ist nach der Ex-In-Ausbildung (siehe KONTAKT 4/2015) nun ambulante Peerberaterin und betreut selbst Klienten. Ich selbst bin Buchautorin, Bloggerin, Online-Coach und Beraterin.

Ich bin nicht nur Angehörige!

Vielleicht kennen viele von Ihnen diese Situation: Wir stellen uns gegenseitig immer als Angehörige oder Betroffene vor und vergessen nur allzu oft, dass wir mehr sind als Angehörige oder Betroffene: Wir sind Frauen oder Männer, wir haben Berufe, wir haben Hobbys und Liebesbeziehungen und darüber hinaus sind wir auch Angehörige von einem psychisch erkrankten Menschen. Das Angehörig-Sein ist nur eine von vielen unserer Rollen. Vergessen Sie das nicht.

Un-Abhängigkeiten aus Angehörigensicht

Was ist emotionale Abhängigkeit?

Wenn unser Wohlergehen zu sehr von den Stimmungen unsers Kindes abhängig ist, sprechen wir von emotionaler Abhängigkeit. Ich bin dann nicht direkt von meinem Kind abhängig, sondern ich gebe meinem Kind die Verantwortung dafür, wie ich mich fühle: Ich kann mich nur dann gut fühlen, wenn es meinem Kind gut geht, ich tue Dinge nur deswegen, damit es meinem Kind gut geht oder ich lasse Dinge, weil mein Kind sonst traurig oder wütend werden könnte. Diese Form der Beziehung hat nichts mit Liebe, sondern mit Verantwortungsabgabe zu tun. Ich möchte Sie dazu anregen, darüber nachzudenken, was es für Ihr Kind bedeutet, wenn Sie nicht glücklich sein können, wenn es Ihrem Kind schlecht geht.

Was heißt Unabhängigkeit?

Heißt nun Unabhängigkeit, dass es uns vollkommen egal sein sollte, wie sich der andere fühlt und heißt Unabhängigkeit, dass es nur darauf ankommt, was ich will oder was mich glücklich macht? Nein, das heißt es sicher nicht! Wir alle sind soziale Wesen, wir lieben und wollen geliebt werden und es hat immer einen Einfluss auf uns, was andere Menschen fühlen oder tun. Es macht aber einen wesentlichen Unterschied, ob ich etwas mache, weil ich mit meinem Tun meinem Kind Freude mache oder weil ich vernünftige Überlegungen für mein Tun habe, oder ob ich etwas deswegen tute, weil ich Angst habe, dass mein Kind sonst traurig oder wütend wird.

Was heißt emotionale Unabhängigkeit?

Emotionale Unabhängigkeit heißt, dass wir für unsere Gefühle selbst Verantwortung übernehmen. Wir sagen oft, „Du machst mich traurig. Du machst mich wütend. Ich bin unglücklich, weil Du…“ Wir können aber anderen nicht die Verantwortung für unsere Gefühle geben, denn die Gefühle erzeugen wir selbst und sie haben ganz wesentlich damit zu tun, wie wir selbst etwas bewerten, z.B. wie wir über ein Ereignis denken. Wenn ich etwa sage, dass die Tatsache, dass meine Tochter vor 20 Jahren eine psychische Erkrankung diagnostiziert bekommen hat, die Katastrophe meines Lebens ist, dann geht es mir schlecht, ich bin unglücklich und erlebe auch die Welt als schlecht und ungerecht. Wenn ich aber diese Ereignis so bewerten kann, dass es vor 20 Jahren einen schlimmen Einschnitt in meinem Leben gab (vor allem für meine Tochter, aber auch in meinem Leben), aber dass wir in diesen Jahren unheimlich viel geschafft haben, ich bin damit fertiggeworden, meine Tochter ist noch viel besser damit fertiggeworden, wir wissen, wie wir mit Rückfällen umgehen können, es hat sich viel gebessert, dann fühle ich mich anders. Es ist meine Entscheidung, wie ich über ein Ereignis nachdenke. Und daher bestimme ich selbst, wie ich mich fühle.

 Un-Abhängigkeiten aus Angehörigensicht

Kritik der Co-Abhängigkeit

Kritik Nr. 1: Schizophrenie, Bipolare Erkrankungen, Borderline-Erkrankungen sind keine Abhängigkeitserkrankungen (anders als Sucht) , daher können Angehörige auch nicht co-abhängig sein.

Kritik Nr. 2: Was mich vielleicht noch mehr ärgert ist die Tatsache, dass es vor allem die Frauen sind, die mit dem Etikett Co-Abhängigkeit versehen werden, weil sie es sind, die in den Familien helfen und unterstützen, wenn Krankheiten hereinbrechen. Es ist völlig normal und nicht a priori pathologisch, wenn ein Kind schwer erkrankt, dass Mütter (manchmal auch Väter) zuerst einmal ihre eigenen Bedürfnisse zurückstellen und alles Mögliche versuchen, dass es dem Kind wieder besser geht. Das ist nicht Überfürsorglichkeit (overprotection), das ist nicht Co-Abhängigkeit, das ist normal, wenn man einen Menschen liebt – und es wird auch gesellschaftlich von uns erwartet. Stellen Sie sich vor, ich hätte mich vor 20 Jahren, als meine Tochter erkrankte, entspannt zurückgelehnt und gesagt, ok, Schizophrenie, sie soll dann eben ihre Medikamente nehmen, die Ärzte kriegen das schon hin, ich achte auf mich, man hätte ich als herzlose Rabenmutter bezeichnet.

Also: Was auch immer wir Angehörigen und zumeist die Mütter tun, es kann pathologisiert und negativ bewertet werden. Bitte wehren Sie sich gegen diese falschen Bewertungen! Wir sind nicht co-abhängig, wir sind co-betroffen, mit-betroffen und manchmal brauchen wir genauso viel Hilfe, Unterstützung und Trost wie unser erkrankter Angehöriger. Ich wünsche mir daher von den professionell Tätigen, dass sie verstehen, dass wir unglücklich sind und sie uns Hilfe anbieten, um aus diesem Unglück herauszukommen.

Emotionale Abhängigkeiten

Bei vielen von uns kreisen die Gedanken permanent um unser erkranktes Kind. „Was macht meine Tochter gerade?“ „Gott sei Dank ist es nicht alleine.“ „Wird die Umstellung der Medikamente gutgehen?“ „Jetzt gerade ist er stabil, aber wie lange wird das anhalten?“ „Meine Tochter macht eine Reise, hoffentlich wird das gut gehen.“ Mein Sohn ist verliebt, das könnte wieder einen Rückfall auslösen.“

Wir sind als Angehörige ständig mit solchen oder ähnlichen Gedanken beschäftigt, können uns durch dieses Sorgendenken nicht wohl fühlen und vergessen dabei auf unsere eigenen Gefühle. Trotz der Erkrankung unserer Kinder gäbe es viele Dinge, an denen wir uns erfreuen könnten. Wir könnten nette Menschen treffen, die Natur genießen, uns verlieben… Wir könnten solche schönen Dinge erleben, tun das aber oft nicht, weil wir uns nur auf unser erkranktes Kind konzentrieren. Ich bezweifle, ob unsere erkrankten Kinder davon profitieren!

Un-Abhängigkeiten aus Angehörigensicht

Wie entstehen emotionale Abhängigkeiten?

Emotionale Abhängigkeiten gibt es nicht nur bei Angehörigen von psychisch erkrankten Menschen. Es gibt die Theorie, dass dies vor allem Menschen mit einem geringen Selbstwertgefühl sind, die wenig Kontrolle über ihr eigenes Leben verspüren, sehr davon abhängig sind, wie andere Menschen auf sie reagieren oder was diese über sie sagen und sich selbst nicht für wichtig genug erachten, um eigene Bedürfnisse ernst zu nehmen. Da ihr Selbstwert so stark vom Anderen abhängt, müssen sie auch immer etwas für die anderen tun, denn nur wenn die anderen sagen, dass sie etwas gut gemacht haben, können sie sich als wertvoll erleben.

Solche Menschen gibt es, solche Angehörige gibt es auch. Ich gehe aber davon aus, dass nicht alle Angehörigen ein geringes Selbstwertgefühl haben. Ich glaube, dass es bei Angehörigen von psychisch erkrankten Menschen noch andere Gründe gibt, dass sie in emotionale Abhängigkeiten geraten.

Das Modell der 5 Säulen der Identität vom Psychotherapeuten Hilarion Petzold besagt, dass Zufriedenheit dann möglich ist, wenn es uns in allen 5 Bereichen (Leiblichkeit, soziale Beziehungen, Arbeit/Leistung, materielle Sicherheit, Werte) gut geht. Bei uns Angehörigen kommt es durch den Einbruch der Erkrankung zu vielfältigen Erschütterungen dieser Säulen der Identität.

Die Säule der Gesundheit wird erschüttert, auch die Angehörigen werden krank oder fühlen sich nicht mehr wohl.

Finanzen, Sicherheit: Durch die psychische Erkrankung fallen Kosten an, wir machen uns Sorgen um die finanzielle Absicherung der erkrankten Person. Durch die Reduzierung von Berufsarbeit geht Einkommen verloren.

Anerkennung, Status: Viele Angehörige müssen aufgrund der Belastungen ihren Beruf aufgeben oder reduzieren, dadurch geht ein wesentlicher Faktor für Anerkennung verloren.

Eine psychische Erkrankung in der Familie bedeutet auch einen Verlust an gesellschaftlicher Anerkennung, da diese Erkrankungen immer noch stark mit persönlichem Versagen in Verbindung gebracht werden. Menschen wenden sich von uns ab, deren wir uns früher sicher waren, vielleicht oft gar nicht aus böser Absicht sondern aus Überforderung, wir haben nicht mehr die Zeit, um soziale Beziehungen zu pflegen und wir beginnen auch an unseren sozialen Kompetenzen zu zweifeln.

Werte, Grundvertrauen: Unser Gottvertrauen oder unser Glaube an ein gutes Schicksal, früher scheinbar stabile Werte von Zuversicht und Hoffnung, werden brüchig.

Die Folge ist, dass wir unsicher werden, uns belastet oder krank fühlen und nicht mehr über unsere guten Bewältigungsstrategien verfügen, die wir in vielen Bereichen vor der Krankheit des Kindes hatten. Wie sollten wir als Angehörige durch all diese Erschütterungen sofort sinnvolle Verhaltensweisen gegenüber unseren Kindern zur Hand haben, woher auch? Wir bräuchten dann jemanden, der uns aufklärt, der uns begleitet, der uns sagt, wie wir uns verhalten sollen. Von dieser Unterstützung, wie sie z.B. bei Eltern von Kindern mit Diabetes selbstverständlich ist, können wir als Eltern von psychisch erkrankten Kindern nur träumen. Gleichzeitig spüren wir aber die Erwartung, dass wir uns richtig verhalten, dass wir fürsorglich sind, aber nicht zu fürsorglich, dass wir uns distanzieren, aber nicht zu stark, dass wir neue Umgangsformen miteinander finden, aber das geht natürlich nicht so schnell.

Un-Abhängigkeiten aus Angehörigensicht

Meist folgen wir daher unserem ersten natürlichen Impuls, jetzt alles für das erkrankte Kind zu machen und dieses Verhalten kann sich einschleifen, führen zu emotionalen Abhängigkeiten auf beiden Seiten und Veränderung wir immer schwieriger. Ich denke jetzt z.B. an eine 75-jährige Frau, deren erkrankter 50-jähriger Sohn noch immer bei ihr wohnt. Sie wünscht sich, öfter auch allein sein können, nicht immer kochen zu müssen und wenn man ihr sagt, sie soll ihren Sohn doch endlich rausschmeißen, bekommt man zur Antwort, dass das nicht geht. Obwohl es für den 50-Jährigen nicht schön und sinnvoll ist, jahrelang bei der alten Mutter zu leben und diese selbst eine Veränderung möchte, wir es immer schwieriger, eingeschliffene abhängige Verhaltensweisen zu verändern.

Folgen emotionaler Abhängigkeiten

Für Betroffene:

Betroffene können uns manipulieren: Wenn wir als Angehörige emotional abhängig sind, dann sind wir auch manipulierbar. Wie oft hören wir von Angehörigen, dass das Setzen von Grenzen (z.B. „Ich will nicht mehr 100mal am Tag angerufen werden“) beim erkrankten Kind Wut auslöst. Oder manche Kinder wollen nicht, dass sich die Eltern mit bestimmten Menschen oder dem Angehörigenverband treffen oder über die Probleme in der Familie reden. „Meine Tochter/mein Sohn will das nicht.“ Davon lassen wir uns manipulieren, und wir machen die Dinge, die wir tun wollen, die uns gut tun, dann bestenfalls heimlich und mit schlechtem Gewissen. Ich erinnere mich gut an die Zeiten, wo mir meine Tochter viele Vorwürfe machte, z.B. dass ich durch ihre Erkrankung neue Freunde gefunden habe oder dass ich mir Kleidung kaufe, obwohl sie selbst kein Geld hat. Damals fühlte ich mich sofort schlecht.

Verhindert Selbständigkeit bei Betroffenen: Wenn wir uns manipulieren lassen, dann verhindern wir die Selbständigkeit der Betroffenen. Aus der übergroßen Sorge, es könnte etwas Schreckliches passieren, neigen wir dazu, den Erkrankten alles abzunehmen. Dadurch werden die Erkrankten oft bevormundet

Glückserwartung – Überforderung für Betroffene: Wenn wir unser Glücklich-Sein vom Wohlbefinden der anderen abhängig machen, überfordern wir die andere Person massiv. Wenn wir meinen, dass sich in unserer übergroßen Sorge um den anderen Mitgefühl ausdrückt, dann liegen wir falsch, es handelt sich dabei um Egoismus. Stellen Sie sich vor, sie verlieren ihren Job und ihr Mann/ihre Frau sagt oder zeigt ständig, wie schlecht es ihr jetzt deswegen geht. Schrecklich. In so einer Situation braucht man einen Partner an seiner Seite, der Hoffnung und Sicherheit vermittelt, dass wir das gemeinsam schaffen. Genauso schrecklich ist es, wenn sich unsere Kinder verantwortlich fühlen müssen, wenn es ihnen schlecht geht. Meine Tochter sagte mir einmal, dass sie sich manchmal gar nicht getraut hat zu sagen, dass sie sich wieder schlechter fühlt, weil sie mich nicht belasten wollte.

Für Angehörige:

Vernachlässigung der eigenen physischen und psychischen Gesundheit: Die fortgesetzte Vernachlässigung der eigenen Befindlichkeit, um sich ausschließlich auf das Wohlergehen des Erkrankten zu konzentrieren, führt dazu, dass der eigenen Gesundheit und auch dem eigenen Wohlbefinden kaum Beachtung geschenkt wird. Viele Angehörige berichten, dass sie sich nicht wohlfühlen oder dass sie sogar selbst krank sind. Aber sie betrachten das als eine selbstverständliche Folge der Krankheit ihres Kindes. Das ist ein Irrtum: Sie verdanken ihre eigenen Erkrankungen der Tatsache, dass sie vergessen, an sich selbst zu denken. Sie beachten weder die eigene Müdigkeit, das Bedürfnis nach Ruhe oder auch nach Freude. Daran erinnert, kommt meistens die Antwort: „Aber ich kann ja nicht…, ich muss doch für meine Tochter…, oder kann doch nicht…, weil mein Sohn…

Nein, es ist unsere Entscheidung, ob wir – auch – etwas für uns tun wollen, oder ob wir in einem Abhängigkeit und Opferstatus verharren wollen und alle unsere Aktivitäten nur danach ausrichten, wie das auf unser Kind wirken könnte.

Un-Abhängigkeiten aus Angehörigensicht

Mangelnde Fähigkeit, rational Probleme lösen zu können:

Wer sich in die Abhängigkeit seines erkrankten Kindes begibt, befindet sich nach einer Weile in einem Zustand permanenten emotionalen Aufruhrs. Angst, Sorge, Ärger, Wut, Misstrauen, Verbitterung, Hoffnung oder Enttäuschung wechseln sich ab. Das ist kein Zustand, der einen befähigt, sich mit einem Problem rational zu beschäftigen und dann zu einer vernünftigen Entscheidung kommen zu können.

Verärgerung und Bitterkeit: Menschen, die sich dauernd aufopfern, bleiben keine Engel. Wer dauernd seinen Gefühlen zuwider handelt, wird bitter, verärgert und fühlt sich von der Welt ungerecht behandelt. Sie kennen sicherlich die vorwurfsvolle Aussage von solchen Menschen „Diese Undankbarkeit bei allem, was ich für Dich/für sie/für ihn tue.“ Solche Vorwürfe sollten wir unseren Kindern nicht antun!

Enttäuschung: Manche Eltern kommen und klagen, dass sie so enttäuscht sind, weil ihr Kind krank ist. „Früher hat mein Sohn studiert, jetzt kann er nur 2mal/Woche einige Stunden arbeiten“ Ja, das ist traurig, aber ich finde, dass man sich auch darüber freuen könnte, dass der Sohn überhaupt arbeiten kann! Aber wenn der soziale Status davon abhängt, ob das eigene Kind studiert oder nicht, dann ist es für die Mutter schrecklich.

Scham: Manche Eltern sagen: „Man schämt sich einfach.“ Das sehe ich nicht so, man schämt sich nicht einfach, sondern wir schämen uns, weil wir selbst bestimmte negative Gedanken oder Vorurteile haben. Wenn wir denken, dass gute, ordentliche Familien keine psychisch kranken Kinder haben, dann müssen wir uns schlecht fühlen, wenn unser Kind psychisch krank wird. Wenn wir aber klar stellen, dass es in jeder Familie passieren kann, dass ein Kind psychisch erkrankt, dann brauche ich mich nicht zu schämen.

Schuldgefühle: Oft fühlen wir uns deshalb schlecht und schuldig, weil wir abhängig davon sind, was die Nachbarn, die Freunde, die Arbeitskollegen von uns denken und was sie über und reden. Wir müssen uns aber bewusst sein, dass es nicht die anderen sind, die uns Schuldgefühle machen, sondern wir reagieren mit Schuldgefühlen, wir akzeptieren die Gedanken der anderen, z.B. weil wir selbst denken, dass eine gute Mutter kein psychisch krankes Kind hat. Ich möchte Ihnen einen wunderbaren Satz meiner Therapeutin mitgeben: „Ein Mensch, der glaubt, dass er eine so schlimme Krankheit wie Schizophrenie hervorrufen könnte, muss an Größenwahnsinn leiden.“

Un-Abhängigkeiten aus Angehörigensicht

Gefühle sind veränderbar

Emotionale Abhängigkeit wurde erlernt und es ist völlig normal, wenn Angehörige mit den erwähnten Gefühlen reagieren. Es gibt keine Angehörigen, die sich vom 1. Tag an richtig verhalten. Wenn etwas erlernt wurde, dann können wir es aber auch wieder verlernen. Emotionale Abhängigkeit ist nicht, wie wir oft denken, ein Zeichen der Fürsorge und Liebe sondern ein Zeichen von Angst und Unsicherheit. Was sollten wir tun, um zu verlernen? Zuerst müssen wir verstehen, woher unsere Gefühle kommen, denn sie fallen nicht vom Himmel oder entstehen etwa in unserem Bauch. Gefühle entstehen dadurch, wie wir über bestimmte Dinge denken und diese Gedanken können wir selbst beeinflussen. Wir können also unsere Gefühle dadurch verändern, dass wir unsere Gedanken verändern. Wenn ich mich freue, dass mein Sohn jetzt wieder zweimal die Woche drei Stunden arbeitet, dann leide ich nicht, weil er kein berühmter Literaturwissenschaftler geworden ist. Wenn meine Tochter Vertrauen zu ihrem Arzt hat, dann muss ich mich nicht darüber ärgern, dass er mit mir nicht spricht. Sondern ich freue mich darüber, dass sie zu ihm geht und seinen Rat befolgt. Wenn Sie sich darüber ärgern, dass das, was Sie sich erhofften oder was Sie für richtig halten, nicht erfolgt, dann werden Sie sich auch schlecht fühlen. Wenn Sie aber sehen, welche Fortschritte ihr Sohn gemacht hat und dass er mit seiner Situation zufrieden ist, dann fühlen Sie sich auch nicht mehr schlecht.

Wir alle haben ein Recht auf ein gutes Leben. Das ist einer der ersten entscheidenden Gedanken. Für solche Angehörige, die sich schwer damit tun, dieses Recht für sich zu fordern, sage ich immer: „Wissen Sie, es ist auch besser für Ihr Kind, wenn es Ihnen gut geht!“ Das macht es – leider immer noch – gerade für Frauen leichter, etwas für sich zu tun. Aber Selbstfürsorge ist kein Egoismus!

Ich kritisiere also nicht, dass wir die erwähnten unangenehmen Gefühle als Angehörige haben, diese Gefühle sind normal. Was ich kritisiere, ist, wenn Angehörige darauf beharren, diese Gefühle weiter haben zu müssen, weil sie davon ausgehen, sie seien ein Naturgesetz. Wenn eine Angehörige sagt „Ja ist weiß, dass es nicht gut ist, aber ich kann einfach nicht anders als zu leiden, wenn mein Kind leidet.“, dann heißt das oft „Ich will nicht anders.“ Ihr möchte ich entgegnen: Natürlich können Sie auch anders. Sie können anfangen, Ihre Gedanken zu hinterfragen und Ihr Denken zu verändern, Sie können weiterdenken. Ich bin eine große Verfechterin der kognitiven Verhaltenstherapie und der Aufklärung. Ich glaube, wenn man etwas verstanden hat, dann ist es der 1. Schritt, etwas zu verändern.

Un-Abhängigkeiten aus Angehörigensicht

Sie können wieder etwas für sich tun

Ich weiß, wenn man so lange nur an andere Menschen gedacht hat, fällt es schwer, wieder etwas für sich zu tun. „Tun Sie etwas für sich, gehen Sie mal Kaffeetrinken, machen Sie Sport, fahren Sie auf Urlaub etc.“ – über solche gedankenlosen Sprüche ärgern wir uns manchmal. Vielleicht ist es gut gemeint, aber hilfreich ist das nicht. Man kann niemandem raten, was er für sich tun soll, ohne zu wissen, was dieser Person wirklich gut tut. Manche Angehörigen wollen auch gar nichts tun müssen, sondern sehnen sich nur nach ein bisschen Ruhe. Ich arbeite gerne mit den schon erwähnten 5 Säulen der Identität, um gemeinsam mit Angehörigen auf die Suche zu gehen, Bereiche herauszufinden, wo einem etwas fehlt, wo man unzufrieden ist und wo man gerne etwas verändern würde.

Machen Sie einfach diese Übung: Malen Sie sich 5 leere Säulen auf und füllen Sie dann jede dieser Säulen mit einem Stift so weit, wie Sie in diesem Bereich genau jetzt zufrieden sind. Dann betrachten Sie das Bild und Sie werden schnell feststellen, ob Ihnen Gesundheit fehlt oder einfach wieder Ihre Freunde und andere sozialen Aktivitäten. Dann haben Sie einen Ansatz, in welchem Bereich Sie am meisten vermissen.

Loslassen

Abhängigkeit bedeutet, an bestimmten Dingen festzuhalten, ja sich festzuklammern. Wir müssen also loslassen, wenn wir uns von den emotionalen Abhängigkeiten befreien möchten. Loslassen meint nicht, dass wir von unserem Kind loslassen sollen, sondern dass wir von unseren völlig übersteigerten Ängsten, Sorgen etc. loslassen, um uns wieder auf eine vernünftige Unterstützung unserer Kinder konzentrieren zu können. Wir müssen auch nicht loslassen, wie es uns gern von Ärzten gesagt wird, sondern wir dürfen loslassen. Wir dürfen das, weil unsere Sorgen sowohl uns als auch unseren Kindern schaden und sie belasten. Und weil wir darauf vertrauen sollten, dass es unseren Kindern trotz ihrer Erkrankung gelingt, ein für sich passendes Leben selbst zu gestalten. Mit unsere Unterstützung, aber ohne unsere ständigen Sorgen. Davon profitieren unsere Kinder. Psychisch erkrankte Menschen möchten nicht, dass sich ihre Eltern dauernd um sie sorgen, psychisch kranke Kinder brauchen starke Eltern.

Wenn Sie mir nun zugehört haben, haben Sie vielleicht den Eindruck bekommen: „Es klingt ja ganz vernünftig, was die Frau Berg-Peer da sagt, aber es ist so schwierig in der Praxis umzusetzen.“ Darauf möchte ich Ihnen antworten: „Wollen Sie denn nun behaupten, Sie haben noch nie etwas Schwieriges in Ihrem Leben gemeistert?“ Dass etwas schwierig ist, ist keine gute Ausrede dafür, etwas nicht zu versuchen.

Ich möchte hierzu meine Tochter zitieren: „Was, das ist für Euch schwierig, Eure Gefühle zu verändern? Was denkst Du denn, was ich in meiner Therapie lernen muss – dass ich nicht so schnell wütend werden, dass ein Wahn ein Wahn ist, dass ich aufgrund der Krankheit vieles nicht mehr so toll kann usw. Wir müssen ständig an unseren Gefühlen arbeiten! Warum sollt ihr denn nicht können?“

Ich traue Ihnen allen zu, dass Sie viel verändern können. Ich habe große Hochachtung vor allen, die hier sitzen. Sie würden hier nicht sitzen, wenn sie nicht schon viele Hürden im Zusammenhang mit der Erkrankung Ihres Kindes überwunden hätten. Ob Sie es falsch oder richtig gemacht haben ist einerlei, Sie haben schon viel bewältigt. Veränderung bedeutet meist: Zwei Schritte vor, einen Schritt zurück. Ich als nun wirklich schon emanzipierte Angehörige – das ist nicht ganz ernst gemeint – falle immer wieder in schon überwunden geglaubte Sorgen zurück. Wenn meine Tochter in einer schlechten Phase zwei Tage lang nicht anruft, mache ich mir große Sorgen. Ich leide dann aber nicht still vor mich hin, sondern spreche mit meiner Tochter. Ich sage Ihr dann, dass ich als alte Frau, die schon so viel mitgemacht hat, ein bisschen Entlastung brauche und Sie könnte dazu beitragen, wenn Sie mir einfach nur ab und zu ein kurzes Lebenszeichen z.B. eine SMS schickt. Das macht sie dann problemlos.

Wir Angehörige lernen dazu und fallen immer wieder zurück in alte Verhaltensweisen – wie alle Menschen. So findet Entwicklung statt. Seien Sie milde zu sich selbst – genauso milde, wie Sie es gegenüber den Fehlern sind, die Ihre Kinder machen. Aber dann: Geben Sie nicht auf, fangen Sie immer wieder von vorne an, denn das müssen unsere Kinder jeden Tag auch tun!

 

 

 

 

 

 

 

 

Über Janine Berg-Peer

Wir bieten monatlich kostenlose Online-Gruppen für Angehörige an. Jeder kann sich anmelden. Termin finden Sie weiter oben im Blog. Alle zwei Monate bieten wir auch englische Online-Gruppen an. Janine: Seit 65 Jahren bin ich Angehörige: Meine Mutter litt an einer bipolaren Erkrankung und meine Tochter erhielt vor 28 Jahren die Blitzdiagnose (zehn Minuten) Schizophrenie. Kurz danach einigten die Profis sich darauf, dass sie an einer bipolaren Erkrankung leidet. Wir hatten gemeinsam schlechte, aber mehr gute Zeiten. Selten sind Menschen mit Krisengefährdung ja immer krank. Henriette: Heute "leide" ich gar nicht mehr an meiner bipolaren Erkrankung. Nein, sie ist nicht weg, aber mir geht es gut mit einer kleinen Dosis an Medikamenten und einem sozialen und sozialpsychiatrischen Netzwerk, das mich stützt. Ich arbeite seit über zehn Jahren als Genesungsbegleiterin, zunächst als ambulante Betreuerin, jetzt seit drei Jahren im Krankenhaus, was mir sehr viel Spaß macht. Dazu gehören auch Workshops mit Polizei, Angehörigen oder auch Pflegeschüler:innen. Gemeinsam unterstützen wir jetzt sei drei Jahren Angehörige. Wir berichten von unseren guten und schlechten Erfahrungen und beraten sie oder geben ihnen Hinweise, die sie übernehmen können oder eben nicht. Ich als Betroffene freue mich schon lange wieder am Leben, an meiner Arbeit, meinen Freund:innen und an meinem Kater Giacometti. Ich lese gern, höre sehr gern Musik und liebe Filme. Janine: Auch ich freue mich trotz allem immer noch am Leben, lese viel, liebe meinen Kater Basquiat, Rosen, Opern und Countertenöre, japanische und koreanische Filme . Gemeinsam schreiben wir an unserem neuen Buch für Angehörige, in dem wir versuchen, ihnen besser verständlich zu machen und warum manche Betroffene tun, was sie tun und wie Angehörige sich Graf einstellen können, um möglichst viele nutzlose Konflikte zu vermeiden. Arbeitstitel bislang: "Mensch Mama, mach Dir nicht ständig Sorgen um mich!"

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