Tagung Psychische Gesundheit 2030 – Schizophrenie , 28.9.2016 in Berlin
Wenn das Ich fremdgeleitet wird – eine Angehörige berichtet
Ich habe mir überlegt, was ich einem Publikum von Fachleuten erzählen soll. Vermutlich bin ich als Angehörige für die Emotionen zuständig. Aber ich möchte Ihnen heute vor allem sagen, warum es sich lohnen kann, Angehörige einzubeziehen und in ihnen einen wichtigen Faktor zur Genesung der Erkrankten zu sehen. Vom Grundsatz her glaube ich, dass wir alle das gleiche Ziel haben: Wir wollen, dass es Menschen, die an Schizophrenie erkrankt sind, besser geht. Ich als Mutter aus emotionalen Gründen, Sie als Ärzte aus medizinischen und die Verbandsvertreter aus Kostengründen.
Mir wurde immer wieder gesagt, dass ich für meine Tochter eine stabile und zugewandte Umgebung sein müsse. Leider wurde mir aber nie gesagt, wie ich das denn schaffen könne, wenn in meiner Umgebung nichts mehr stabil ist und ich in die emotionale Verwirrung meiner Tochter mit hineingezogen werde, wenn das „Ich“ meiner Tochter wieder einmal fremdgeleitet“ wird.
Es scheint belegt zu sein, dass für die Adhärenz der Erkrankten auch die Einstellungen der Supporter äußerst wichtig seien. Ich gehe davon aus, dass mit Supportern vor allem wir Angehörige, natürlich auch freunde gemeint sind. Wenn das so ist, dann müsste Ihnen als Ärzte doch etwas daran liegen, dass die Supporter, also wir Angehörigen oder Freunde, auch eine Einstellung bekommen, die für die Genesung unsere Kinder förderlich ist. Auch in anderen Untersuchungen wird die Nützlichkeit der Einbeziehung von Angehörigen belegt: Recovery wird beschleunigt, es müssen weniger Medikamente gegeben werden und der Krankenhausaufenthalt werden kürzer. Mit anderen Worten: Es rechnet sich, Angehörige mit einzubeziehen.
Angehörige müssen wirklich einbezogen werden
Nach meiner Erfahrung ist die Einbeziehung von Angehörigen aber trotz der Empfehlungen der DGPPN auch heute noch ein frommer Wunsch. Sie werden mir sicher widersprechen und auf Gesprächsgruppen, auf Psychoedukation und Psychosegruppen an Ihren Kliniken hinweisen. Es ist gut und richtig, dass es diese Angebote inzwischen gibt. Aber 1. haben Gesprächsgruppen wenig mit der Einbeziehung von Angehörigen zu tun. Und 2. wollen wir uns heute nicht mit dem begnügen, was schon ganz gut läuft. Wir wollen doch in die Zukunft schauen, und da ist durchaus noch Raum für Verbesserung.
Wir Angehörigen sollen eine stabile und zugewandte Umgebung sein und den Genesungsprozess adäquat unterstützen. Aber wie sollen wir das tun, wenn wir aufgeregt und besorgt sind und vor allem keine Informationen darüber erhalten, wie sich Schizophrenie im Alltag auswirkt und welche Copingstrategien wir entwickeln sollten, um unsere Kinder zu unterstützen? Ich spreche jetzt vor allem über meine eigenen Erfahrungen. Sie können zu Recht sagen, dass die schon weit zurück liegen. Aber die vielen Anrufe jüngerer Angehöriger lassen mich aber daran zweifeln, ob es heute durchgängig anders ist.
Mein erster Schock: Die Diagnose
Vor genau 20 Jahren war der Satz „Ihre Tochter hat Schizophrenie – Sie müssen aber keine Schuldgefühle haben!“ mein erster Kontakt mit dem Thema Schizophrenie. Wenn ich durch das entsetzliche Wort Schizophrenie nicht zu erschüttert gewesen wäre, dann hätte mir damals schon klar werden müssen, dass ich mich künftig nicht nur mit der Krankheit, sondern noch mit ganz anderen Themen beschäftigen müsste. Damals wurden in meinem Kopf sofort die Bilder abgerufen, die viele Menschen bei dem Wort Schizophrenie haben: Jack Nicholson in „Einer flog übers Kuckucksnest“ oder, noch schlimmer, in „Shining“. Ich hatte das Gefühl, dass sich der Boden unter mir auftat. Mir wurde in dem Moment klar, dass mein Leben zu Ende war. Über Schuldgefühle konnte ich nicht nachdenken, vor allem hatte ich auch gar keine Schuldgefühle. Aber da musste ich mir keine Sorgen machen: Jede Angehörige erkennt nach kurzer Zeit, dass Schuldgefühle geradezu von uns erwartet werden.
Angehörige müssen wirklich einbezogen werden
Diese tiefgehende Erschütterung ist sicher nicht dazu angetan, eine Mutter oder auch einen Vater umgehend zu einer stabilen und zugewandten Umgebung zu machen. Manche Eltern, die bereits Horrorjahre hinter sich haben, in denen sich die Krankheit langsam eingeschlichen hat, sind bereits vor der Diagnose „Schizophrenie“ am Limit. In so einer Situation der Erschütterung brauchen Menschen Trost, Zuwendung und Information. Sie brauchen vor allem auch eine Perspektive: Wie wird es weitergehen, was wir mit meinem Kind getan, worauf muss ich mich einstellen.
Da Sie die Klagen von Angehörigen sicher schon oft gehört haben, fasse ich mich hier kurz: Genau das bekommen wir bei unserem ersten Kontakt mit der Psychiatrie eben nicht oder nur sehr selten. Viele Angehörige erleben – auch noch heute – , dass Ärzte in den Kliniken und in der Praxis uns gegenüber äußerst zurückhaltend sind – um es einmal euphemistisch auszudrücken. Gespräche mit den Ärzten sind schwierig zu erhalten. Als es mir vor 20 Jahren nach 4 Tagen (!) gelang, ein Gespräch mit dem Arzt zu erhalten, lief das so ab: Er nahte deutlich gestresst und bat mich in sein Zimmer. Mit einem genervten Blick auf die Uhr sagte er dann „Also Ihre Tochter hat Schizophrenie, wir behandeln Sie mit Neuroleptika. Was wollen Sie sonst noch wissen?“ Ich denke, wir sind uns einig, ein solches Gespräch hilft einer aufgeregten Angehörigen wenig.
Das hat sich in unserer Krankenhauszeit und auch bei niedergelassenen Ärzten über die ganze Zeit so durchgezogen. Die Ärzte haben keine Zeit, sind nicht zu erreichen und überhaupt gibt es ja die ärztliche Schweigepflicht. Ich möchte an dieser Stelle betonen, dass ich die ärztliche Schweigepflicht für wichtig und richtig zum Schutz der Patienten halte. Die Frage ist aber, ob man sich daran hält zum Schutz des Patienten oder ob man die Schweigepflicht als Bollwerk gegen Angehörige nutzt. Die Frage ist auch, warum Psychiater
nicht frühzeitig Angehörigen empfehlen, sich eine Schweigepflichtentbindung von ihren Kindern zu geben. In guten Zeiten wird das bei viele Erkrankten möglich sein. Ich habe mir das Gesetz durchgelesen: Niemand verbietet dem Arzt einer Angehörigen allgemeine Informationen über Schizophrenie zu geben: Über Symptome, Medikamente, Nebenwirkungen und schwierige Verhaltensweisen. Ich hätte meiner Tochter keine Vorhaltungen wegen ihres Gewichts oder der Unordnung in ihrer Wohnung gemacht, die sie nur mehr verstört haben müssen. Ich hätte mit den Aggressionen meiner Tochter gelassener umgehen können, was sicher manche Eskalation verhindert hätte.
Angehörige müssen wirklich einbezogen werden
Bei dem anfänglichen Schock bleibt es nicht. Wir leiden unter den psychotischen Symptomen: Können Sie sich das Grauen vorstellen, dass mich erfasste, als meine Tochter mich nicht mehr erkannte? Als sie in einer anderen Realität war, zu der ich keinen Zugang fand? Hier hätte ich auch einen Arzt brauchen können, der mir diese Symptome und eine vernünftige Reaktion darauf ruhig erklärt hätte. Das passierte nicht, sondern die Ärztin, die mich in Tränen sah, scheuchte mich aus dem Zimmer mit den Worten, dass mein Weinen nun wirklich ganz schlecht für meine Tochter sei. Sie hatte Recht, aber hätte sie nicht auch anders mit mir umgehen können?
Wenn man mehr darüber weiß, kann man lernen mit diesen Symptomen umzugehen: Als meine Tochter mich 10 Jahre später wieder nicht erkannte und glaubte, ich hätte den Auftrag zu ihrer Ermordung gegeben, konnte ich ruhig auf ihre Angst reagieren. Und als sie sich in später einen imaginären Freund zulegte, mit dem sie sich hochvergnügt unterhielt, sind wir mehrere Monate zu dritt spazieren gegangen.n Ich habe inzwischen gelernt, damit umzugehen, vor allem viel durch Gespräche mit meiner Tochter gelernt. Ich kann heute gelassener sein, aber ich treffe viele Angehörige, die sich auch nach 20 Jahren immer noch in die Aufgeregtheit ihrer Kinder hineinziehen lassen, was mit Sicherheit nicht gut für ihre Kinder ist.
Schwieriger noch als psychotische Symptome sind die Stimmungsschwankungen, Aggressivität, Reizbarkeit, die wir bei unseren Kindern erleben können. Unordnung bis zur Verwahrlosung, Rücksichtlosigkeit, emotionale Blindheit gegenüber Angehörigen oder auch Antriebslosigkeit und sozialer Rückzug. Alles das sind Verhaltensweisen, die in der Pubertät auch bei gesunden Jugendlichen vorkommen können oder auch bei gesunden Erwachsenen. Niemand hat mich auf diese Verhalntesweisen aufmerksam gemacht. In den medizinischen Büchern gibt es gute Erklärungen, aber diese medizinischen Begriffe sind für Laien nicht einfach mit Unordnung oder beleidigendem Verhalten zusammenzubringen.
Angehörige müssen wirklich einbezogen werden
Es dauert lange, bis ich verstanden habe, dass es sich auch hierbei um Krankheitssymptome handelt. Es ist nicht einfach, gelassen zu reagieren, wenn die eigene Tochter einen im voll besetzten Restaurant plötzlich anschreit und mit Ausdrücken belegt, die ich hier nicht aussprechen möchte. Es ist eine große Herausforderung, liebevoll und unterstützend zu bleiben und Verhaltensweisen zu akzeptieren, die wir bei keinem anderen Menschen ertragen würden.
Zu diesen Schwierigkeiten, die sich aus der Krankheit ergeben, kommen noch: Freunde und Familienmitglieder wenden sich ab, trösten nicht und nehmen uns nichts ab. Hinzu kommen finanzielle Sorgen, weil wir unsere Kinder weiterhin unterstützen müssen und wollen. Auch von den sozialpsychiatrischen Einrichtungen erhalten wir wenig Hilfe: Es stimmt, es gibt viele Einrichtungen: Sozialpsychiatrische Dienste, Krankenhäuser, Tageskliniken, ambulante Dienste, und sogar Alternativangebote wie Weglaufhaus und Krisenpension. Aber versuchen Sie einmal, dort in einer akuten Krise Hilfe zu bekommen! Wir kennen uns nicht aus, wir überblicken nicht, welche Dienstleistung für welche Situation wo zu erhalten ist. Es dauert Jahre, bis wir diesen sozialpsychiatrischen Dschungel durchschauen. Warum kann uns nicht gleich zu Beginn der Krankheit ein für Laien verständlicher Leitfaden für Hilfen übergeben werden?
Außerdem: Man nimmt uns auch nicht ernst. In einer dramatischen Situation erhielt ich beim SPD den Rat, doch meine Tochter nicht ständig kontrollieren zu wollen. Der Arzt empfahl mir, mich doch endlich einmal von meiner Tochter zu lösen. Zwei Tage danach hatte sich das Problem für die psychiatrischen und sozialpsychiatrischen Akteure erledigt. Die Polizei kam mit Handschellen… als einziges wirklich niederschwelliges Angebot. Können Sie sich vorstellen, wie das für eine Mutter ist, die überall versucht hat, Hilfe zu bekommen? Wie leicht es ist, verbittert zu werden und den Fachleuten nicht mehr zu trauen?
Angehörige müssen wirklich einbezogen werden
Was auch selten benannt wird: Wir Angehörigen müssen mit vielen Verlusten fertigwerden. Wir verlieren ein Kind, mit dem wir Interessen teilten, mit dem wir vergnügt sein konnten. Wir verlieren eine Zukunft, die wir uns für unser Kind erträumt hatten. Wir müssen auch unsere eigenen Lebensentwürfe aufgeben: Ohne die Krankheit meiner Tochter wäre ich heute nicht hier und würde über Schizophrenie reden, sondern würde die Hälfte des Jahres in Indien leben, aufs Meer schauen und dabei aufsehenerregende Romane schreiben.
Vor allem diese Ablehnung trifft uns hart: Als ich das erste Mal einem Psychiater gegenübersaß und in Tränen ausgebrochen war, dachte ich noch naiv, dass er Mitgefühl mit mir hätte. Aber sein Blick sagte etwas anderes: Ich war eine labile Mutter! Kein Wunder… Mir wurde schnell klar, dass wir Angehörigen ebenfalls diagnostiziert werden und auf dieser Basis von Psychiatern behandelt werden. Das Problem ist nur, dass uns i.d.R. weder die Diagnose noch die zugrundeliegende psychologischen oder psychiatrischen Konzepte mitgeteilt werden. Wir werden misstrauisch und ziehen uns zurück. Wir erkennen, dass viele Fachleute, Betroffene und Laien uns die Schuld an die Krankheit zuschreiben: Vor alle von den organisierten Betroffenen werden wir kritisiert: Wir sind die Verursacher der Krankheit, wir wollen es uns leicht machen und die Betroffenen am besten per Zwangseinweisung ins Krankenhaus einweisen, wir verdammen unsere Kinder – an der Seite der biologistischen Psychiater – zu lebenslangem Medikamentenschlucken. Die schizophrenogene Mutter ist in den Köpfen vieler Psychiater und Sozialarbeiter und Laien (!) noch sehr lebendig.
Angehörige müssen wirklich einbezogen werden
Woher ich das weiß?
„Sie haben ja eine sehr symbiotische Beziehung, Sie umarmen und küssen sich immer, wenn sie ihre Tochter begrüßen.“ (Stationsarzt 1996)
„Sie sind ja auch eine sehr dominierende Frau!“ (Kollege, dem ich von meiner Tochter erzählte) 2001
Wie alt war Ihre Tochter, als Sie sich scheiden ließen?“ 9 Jahre. „Aha!“ Sie waren immer berufstätig?“ Aha! (Damals und heute!)
„Natürlich gibt es die schizophrenogene Mutter!“ (2012, Woche der seelischen Gesundheit Berlin, Psychotherapeut und Dozent an der Fachhochschule für Sozialarbeit)
„Kein Kind, das an einer psychischen Erkrankung leidet, hat jemals eine echte Bindung zu seiner Mutter aufbauen können.“ (2015, eine Sozialarbeiterin, die einen Vortrag vor mir hielt)
Diese Schuldzuschreibungen haben negative Nebeneffekte: Weil diese Anschuldigungen uns zu sehr schmerzen, müssen wir sie vehement abwehren. Das kann dazu führen, dass uns nicht die emotionale Kraft bleibt, über Verhaltensweisen nachzudenken, die tatsächlich nicht gut für unsere Kinder sind und die wir ändern sollten – selbst wenn sie nicht die Ursache für die Krankheit sind.
Glauben Sie, dass diese Schuldzuweisungen uns stabil und zugewandt machen? Sie kennen die Untersuchungen, die belegen, dass Angehörige extrem belastet sind (Isoliert, selbst krank, Sorgen vor der Zukunft, Schuldgefühle und Scham, finanziell eingeschränkt, leiden unter Stress, der dem Stress von Studenten vor einer Prüfung entspricht, nur wir sind lebenslang in dieser Situation). Ich habe davon vor 18 Jahren gehört und letztes Jahr wieder auf einer Tagung: Es scheint so, als ob Fachleute und Angehörige diese Belastungen für unveränderbar halten. Ich halte das nicht für zwingend: Ich sehe das so:
- Manche Belastungen sind auf die Krankheit selbst zurückzuführen. Die müssen wir aushalten, und das tun wir auch.
- Andere Belastungen sind – und das sage ich selbstkritisch – darauf zurückzuführen, welche Einstellung wir zu der Krankheit haben. Das bedeutet, dass wir an uns arbeiten müssen, an unseren Glaubenssätzen, Vorurteilen und Copingstrategien. (Mein 2. Buch)
- Aber viele Belastungen entstehen auch dadurch, wie Sie als Fachleute unseren Kontakt zur Psychiatrie gestalten – und dass könnten Sie ändern.
Wir machen viel falsch! Wir werden oft kritisiert und Sie werden jetzt erstaunt sein, dass ich Ihnen zustimme: Ja, wir Angehörigen verhalten uns oft falsch. Denn: Weil niemand uns sagt, was richtig oder sinnvoll wäre, tun wir das, was wir für richtig halten – und genau das führt dann häufig zu Verhaltensweisen, die dann von Ärzten und Sozialarbeitern zu Recht kritisiert werden.
Angehörige müssen wirklich einbezogen werden
Was können Sie tun? Was wünschen wir uns?
- Sehr viel hängt davon ab, wie unser erster Kontakt zu der Psychiatrie abläuft: Es liegt an Ihnen, ob es ein Kontakt wird, der eine künftige Zusammenarbeit erleichtert oder ob er dazu führt, dass wir uns zurückgewiesen fühlen und eine negative Einstellung zur Psychiatrie und zu Psychiatern bekommen.
- Dann sollten wir tatsächlich in die Therapie unserer Kinder mit einbezogen werden (nicht nur Gesprächsgruppen!). Nicht, um nett zu uns zu sein, sondern weil es uns dabei helfen wird, den Genesungsprozess zu unterstützen. Unter Einbeziehung verstehe ich, dass wir von Anfang an dabei sind: Welche Behandlung, welches Therapieziel, wie lange, was soll bekämpft werden? Und: Wie können wir als Angehörige jetzt unterstützen!
Ich halte es für einen fachlichen Fehler, uns nicht einzubeziehen:
- Wenn Eltern sich gekränkt und zurückgewiesen fühlen und verärgert sind, neigen sie dazu, ihre Kritik an den Ärzten auch ihren Kindern gegenüber zu äußern. Das fördert sicher nicht auf das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient, das eine wichtige Voraussetzung für den Genesungsprozess ist. Und viele Angehörige tun das!
Aber das Wichtigste:
- Angehörige, die nicht Bescheid wissen über die Therapie und vor allem die Therapieziele, können ihre Kinder nicht sinnvoll unterstützen. Stattdessen können wir die Therapie behindern, weil wir nicht wissen, was der Arzt bezweckt.
Dazu muss gar nichts Neues ausgedacht werden, das Prinzip des Open Dialogue liefert hier eine sinnvolle Lösung, die von Beginn an alle Akteure einbezieht. Noch einmal zu den Kosten: Es rechnet sich, Angehörige mit einzubeziehen: Wir sind eine kostenlose und wichtige Ressource des Gesundheitssystems. Aber wenn Sie davon profitieren wollen, dann sollten Sie auch dafür sorgen, dass diese kostenlose Ressource stabil bleibt: Wenn man die Krankheiten berücksichtigt, an denen viele Angehörige leiden, dann wird das für das Gesundheitssystem wieder extrem teuer. Ich selbst habe meine Krankenkasse sicher viel gekostet: Chronische Schmerzen, Kreislaufprobleme, zeitweise eine Depression, Krankenhausaufenthalte, Medikamente zahllose teure Untersuchungen. Wenn man noch die entgangenen Einnahmen berechnet, die dadurch entstanden, dass ich in meiner kleinen Beratungsfirma nicht mehr so intensiv arbeiten konnte, dann entgehen dem Staat, den Kranken- und den Rentenkassen viel: Rechnen Sie durch, was das bei vielen Angehörigen bedeuten kann.
Angehörige müssen wirklich einbezogen werden
Was wünschen wir uns noch?
- Sehr viel mehr Soziotherapie und ambulante Betreuung, Soziotherapie ganz wichtig, weil sie niederschwellig eingeführt werden kann: Meine Tochter hat ihren Widerstand aufgegeben, weil ihr Arzt das einfach verschrieb und die Soziotherapeutin dann im Krankenhaus erschien. Seit diesem Tag vor 6 Jahren hat sich unser Leben grundlegend geändert – zum Positiven.
- Home Treatment: Wichtig und gut, aber: Aber als in einer Klinik Hometreatment-Teams vorgestellt wurden und ich als erfahrene Angehörige die Frage stellte, was denn mit denen, die nicht wollen, sei. Die Antwort war: „Wir können ja nicht die Türen aufbrechen!“ Richtig, das sollten Sie auch nicht. Aber es gibt ja noch eine Bandbreite von Möglichkeiten zwischen Einverständnis des Patienten und Türaufbrechen. Mir würde dazu Vieles einfallen. Aus Finnland habe ich den Begriff der „freundlichen Belästigung“ übernommen, den halte ich für sehr sinnvoll.
Das ist der Unterschied zwischen Fachleuten und uns Angehörigen: Ich schaffe es emotional nicht, mich auf eine rechtliche Position zurückziehen: Ich muss mir etwas einfallen lassen, damit meine Tochter die Tür öffnet und Hilfe von mir annimmt. Und ich schaffe das. Wenn ich das kann, dann können Sie das auch.
Hier könnte m.E. auch mit Angehörigen und Betroffenen (EX-IN) zusammengearbeitet werden. Das Gute daran, wenn wir wieder über Kosten sprechen: Wir sind billig, wir sind genügsam. Wir sind schon froh, wenn wir überhaupt eingebunden und bezahlt werden!
- Ich wünsche mir weniger bürokratische Abwicklung von den möglichen Hilfen, es dauert ewig. Und wie ich von meiner Tochter weiß, kann ihre Bereitschaft, Hilfe anzunehmen, bis zur Bewilligung bereits schon wieder verschwunden sein.
- Vieles können nur Betroffene selbst beantragen, aber ist das nicht zynisch, wenn Sie als Fachleute doch wissen, dass viele Betroffene genau das nicht können?
Ich wünsche mir eine andere Einstellung von Ärzten und Sozialarbeitern:
- Meine Tochter bat mich, Ihnen zu sagen, Sie mögen doch ihre Patienten gewinnen: Erklären Sie ihnen, warum Sie etwas vorschlagen, lassen Sie den Patienten eine Wahl, auch wenn sie noch so klein ist, klären Sie über Medikamente und ihre Nebenwirkungen auf. Das ist besonders wichtig, wenn man weiß, dass die Adhärenz wesentlich von erstem Kontakt zur Psychiatrie abhängig ist.
- Nicht nur darauf achten, dass Patienten medizinisch gesund werden, sondern auch darauf, was Patienten wollen, welche Ziele sie haben und wie sie sich fühlen. Hier kann ich allen Ärzten das Buch des amerikanischen Neurochirurgen Atul Gawande „Sterblich sein“ empfehlen.
- Fördern Sie die Autonomie und Selbständigkeit der Patienten fördern: Nicht auf Vermeidung von Krisen fokussieren, sondern sie zu kleinen Schritte zurück ins Leben ermutigen. Es macht nichts, wenn wieder ein Schub kommt oder etwas nicht klappt. Auch Gesunde scheitern. Nicht Krisenvermeidung muss an erster Stelle stehen, sondern Betroffen und ihre Angehörigen müssen lernen, mit Krisen umzugehen.
- Last but not least: Motivieren Sie Ihre Mitarbeiter in Kliniken, wenn Sie neue innovative Projekte implementieren: Ich betreue gerade einen Flüchtling, der in der Psychiatrie ist. Leider muss ich feststellen, dass an dieser renommierten Klinik wieder eine extreme Unfreundlichkeit auf der Station herrscht. Meine Tochter war dabei und bemerkte, dass sie sich das als EX-IN-Bezugsbetreuerin nicht leisten könne, wenn die Patienten sie ablehnen würden, dann hätte sie keinen Job.
- Sie sollten auch die Wohnmöglichkeiten für Schizophreniepatienten bedenken. Eine eigene Wohnung, auch eine betreute Wohnung ist für die Kranken extrem wichtig. Und in Berlin z.B. herrscht eine dramatische Situation. Menschen mit wenig Geld können kaum eine Wohnung bekommen. Es muss deutlich mehr Wohnraum für psychisch Kranke berücksichtigt werden.
Als Abschluss möchte ich Ihnen sagen, dass Alles, was ich heute erzählt habe, keine Kritik an Ihrer psychiatrischen Kompetenz ist. Aber das Leben und die Krankheit eines Menschen mit Schizophrenie findet nicht nur in den 3 bis 8 Wochen Krankenhaus statt. Bei einer ganzheitlichen Behandlung müssen auch die anderen Lebensaspekte mit einbezogen werden. Und dazu gehören eben auch die Beziehungen zu den Angehörigen. Sie sollten uns als einen wichtigen Faktor der Genesung zu sehen – ob wir Angehörigen nun nett sind oder nicht. Sie können sich die Angehörigen nicht aussuchen, wir können uns die Ärzte nicht aussuchen. Aber Sie haben die Kompetenz und die Möglichkeit, anders mit uns umzugehen.
Ein positiver Ausblick: Vor 20 Jahren dachte ich, mein Leben und das meiner Tochter sei zu Ende: Das hat sich nicht bewahrheitet. Wir haben beide gelernt: Meine Tochter hat gelernt, ihre Erkrankung zu managen und arbeitet jetzt als Peer-Beraterin und betreut selbständig Klienten. Mir geht es besser und – zur Beruhigung der Krankenkasse – ich nehme viel weniger Medikamente und war schon seit Jahren nicht mehr im Krankenhaus.
Es gab Psychiaterinnen, die uns geholfen haben, es gibt vor allem eine Sozialarbeiterin, die unser Leben verändert hat. Aber eine verständnisvolle und frühzeitig einsetzende Information und wirkliche Einbeziehung hätte mir und meiner Tochter manchen unproduktiven Umweg – wie wir in der Bildungsökonomie sagen, erspart.