H. Peer und J. Berg-Peer – Bericht aus der Online-Angehörigengruppe
Seit Februar 2021 bietet der FID Freundeskreis Integrative Dienste gGmbH, bei dem ich seit 6 Jahren als Genesungsbegleiterin EX-IN arbeite, einmal im Monat eine Online-Angehörigengruppe für Angehörige psychisch Erkrankter an. Der FID hat bewusst mich als Erfahrungsexpertin und dazu meine Mutter als Moderatorinnen ausgewählt, weil es für viele Angehörige interessant ist, wenn sie hören, welche Konflikte es auch bei uns gegeben hat und wie sich diese vielleicht lösen lassen. Denn die Probleme, die von den Angehörigen angesprochen werden, kennen wir auch.
Anfangs waren wir gespannt, ob diese Online-Angehörigengruppe überhaupt angenommen werden würde. Aber nach fünf Monaten können wir sagen, dass genau das eingetroffen ist. Viele der Teilnehmenden waren froh über dieses Angebot, weil wegen Corona viele anderen Gruppen nicht stattfinden konnten und weil sich doch viele Angehörige vom psychiatrischen System oft stiefmütterlich behandelt fühlen. Inzwischen haben wir schon eine feste Gruppe, die zu jedem Termin kommt. Andere kommen ab und zu und immer wieder sehen wir auch neue Gesichter. Meistens sind es Mütter von psychisch erkrankten Kindern, manchmal auch Geschwister oder Töchter von psychisch erkrankten Eltern. Väter, Söhne, Brüder waren bislang nur selten dabei. Bei diesem Austausch haben wir beobachtet, dass es vor allem darum geht, wie die Angehörigen mit ihren psychisch Erkrankten im Alltag umgehen sollen oder dürfen.
H. Peer und J. Berg-Peer – Bericht aus der Online-Angehörigengruppe
Hier sind ein paar typische Fragen: „Wie gehe ich damit um, dass mein Betroffener jede Hilfe ablehnt, nicht ins Krankenhaus und auch keine Tabletten nehmen will?“ Es gibt natürlich keine eindeutigen Tipps, wie Tochter oder Sohn problemlos dazu gebracht werden können, therapeutische Hilfe anzunehmen. Außerdem ist das auch bei jedem Betroffenen anders. Ausserdem haben auch psychisch erkrankte Menschen das Recht auf eigene Entscheidungen, auch wenn wir verstehen, dass das manchmal für Angehörige schwer ist, zu akzeptieren. Wir versuchen die Angehörigen davon zu überzeugen, das niemand, auch nicht Menschen ohne eine psychische Erkrankung, dazu gebracht werden kann, etwas zu tun, was er oder sie absolut nicht will.
Stattdessen versuchen wir mit den Angehörigen zu überlegen, wie kann ich mein Kind gut unterstützen, auch wenn es keine Medikamente nehmen will?
Es gibt aber auch andere Themen, wie z.B. „Mein Betroffener schafft es nicht, Ordnung in seiner Wohnung zu halten. Was kann ich dazu beitragen, dass er es schafft oder sollte ich akzeptieren, dass es in dessen Wohnung eben aussieht, wie es aussieht?“ Manchmal berichtet eine Mutter, dass ihr Sohn überhaupt nicht spricht, was kann sie versuchen, um eine Antwort zu bekommen oder sollte sie es akzeptieren? Oder „Meine Tochter beschimpft mich und beschuldigt mich, die Krankheit verursacht zu haben“. Hier versuchen wir aus den jeweiligen Perspektiven einen Rat zu geben, wie Eltern damit umgehen sollten oder dürfen.
H. Peer und J. Berg-Peer – Bericht aus der Online-Angehörigengruppe
Worauf wir immer wieder hinweisen: Angehörige müssen verstehen, dass das Kind krank ist und dass es keine noch so gute Therapien, keine Medikamente und auch keine noch so freundlichen Psychiater gibt, die eine psychische Krankheit garantiert zum Verschwinden bringen können. Vor allem auch, dass viele der schwierigen Verhaltensweisen nicht auf einen schlechten Charakter oder schlechtes Benehmen zurückzuführen sind, sondern eben auf die Krankheit. Wichtig ist es für die Angehörigen zu verstehen, dass es sich bei Unordnung, Beschimpfungen oder Schweigsamkeit meistens um Auswirkungen der Erkrankung handelt. Tochter oder Sohn oder Lebenspartner*in sind nicht böse oder ungezogen oder faul, sondern sie sind krank. Wenn wir es in der unordentlichen Wohnung nicht aushalten, dann können wir uns mit dem Betroffenen in einem Café treffen. Manchmal ist so ein neutraler Ort auch sinnvoller.
Viele beklagen den Mangel an Krankheitseinsicht. Sie glauben, wie es ja auch viele Profis tun, dass mit Krankheitseinsicht alles gut würde! Dass muss aber nicht so sein. Ich selbst, aber auch viele andere Betroffene, haben nach einiger Zeit durchaus Krankheitseinsicht, aber diese schützt uns nicht vor neuen Krisen. Krisen kommen mit und ohne Krankheitseinsicht. Daher versuchen wir die Angehörigen davon zu überzeugen, dass sie nicht ständig ihre Kinder dazu drängen sollten, doch endlich einzusehen, dass sie krank sind und Medikamente brauchen. Fehlende Krankheitseinsicht ist ein Symptom von vielen psychischen Erkrankungen und kann daher – ebenso wie andere Symptome – nicht einfach mit ein bisschen guten Willen – abgelegt werden. Die meisten Betroffenen sind nur genervt, wenn Angehörige mal wieder von Krankheitseinsicht reden, auch wenn es gut gemeint ist. Daher werden sie dann vielleicht laut oder ziehen sich total zurück. Außerdem gibt es ja auch noch viele andere Gründe, warum jemand nicht ins Krankenhaus will oder Medikamente ablehnt.
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Manche Angehörige sind total verzweifelt und habe jede Hoffnung aufgegeben, dass es ihrem Kind jemals wieder besser gehen könnte. Diese Angehörigen ermutigen wir, niemals die Hoffnung aufzugeben. Angehörige sollten sich freuen, wenn es ihrem Kind gerade etwas besser geht und
darauf hoffen, dass die guten Zeiten allmählich länger sind. Ständig zu überlegen, was wohl in der Zukunft alles Schlimmes passieren könnte, macht Angehörige gestresst oder gar krank und es kann die Betroffenen demotivieren. Sie spüren, dass wir immer auf eine neue Krise lauern oder immer hoffen, dass es besser sein sollte. Stattdessen freuen wir uns über das, was heute gut ist.
Die Erfahrung vieler Angehörige zeigt, dass es einem menschen nach längerer Zeit auch wieder richtig gut gehen kann – mit und ohne Krankheitseinsicht. Es ist wichtig, dass sie die Hoffnung behalten, weil sich das auch auf den Erkrankten überträgt. Schließlich hat es auch bei mir lange gedauert. Daher sollten sie den Blick nicht nur auf die Defizite, sondern vor allem darauf richten, was für den Betroffenen möglich ist trotz Krankheit. Manchmal hilft auch nichts anderes, als den Betroffenen während einer Krise ruhig zu begleiten, ohne ständig aufgeregt zu sein. In einer Krise ist besonders die Ruhe und Gelassenheit von Angehörigen gefragt. Die Betroffenen kämpfen schon mit der eigenen Aufgeregtheit, da können sie sich nicht auch noch mit unserer Aufgeregtheit auseinandersetzen.
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Noch etwas anderes haben wir beobachtet: Viele Angehörige sind erstaunt, wenn wir sie fragen, ob denn eigentlich sie als Mutter das Problem habe oder ob etwas auch das Problem des Betroffenen sei? Warum muss sich die Tochter danach richten, ob die Mutter ihre Wohnung ordentlich findet? Warum darf der Sohn nicht etwas ausprobieren, was die Eltern vielleicht zu
gefährlich finden, was dem Sohn aber vielleicht erlaubt, seine eigenen Fähigkeiten und grenzen auszuprobieren? Das ist auch oft das Problem in Krankenhäusern: Die Pflegenden stellen dort Regeln auf, die ihnen sinnvoll erscheinen, aber vielen Betroffenen und Angehörigen überhaupt nicht. Und die Patient*innen werden dann bestraft, wen sie sich nicht nach den Regeln richten. Es würde viel helfen, wenn auch im elterlichen Haushalt oder im Umgang mit den Eltern gemeinsam besprochen würde, welche Erwartungen die Betroffenen an die Eltern und welche die Eltern an die Betroffenen haben. Wi glauben und haben auch im Umgang miteinander festgestellt, dass sich beide Sitten viel besser an Regeln halten können, wenn sie gemeinsam aufgestellt wurden.
Aber das Wichtigste ist für uns, die Angehörigen zu ermutigen, sich vor allem auf die Beziehung zu dem Betroffenen zu konzentrieren und „Störfaktoren“ wie Unordnung, Weigerung, Medikamente zu nehmen, eine laute Antwort o.ä. einfach als weniger wichtig anzusehen.
H. Peer und J. Berg-Peer – Bericht aus der Online-Angehörigengruppe
Gleichzeitig ermutigen wir Angehörige auch dazu, Grenzen zu setzen, sich nicht unter Druck setzen zu lassen. Angehörige müssen keine zehn Anrufe am Tag oder unzählige Whatsapps ertragen. Sie müssen auch nicht immer auf Geldforderungen eingehen. Sie müssen nicht
akzeptieren, dass die Betroffenen immer unangemeldet vor der Tür stehen. Sie müssen sich auch keine Beschuldigungen anhören. Oft hören wir von den Angehörigen, dass sie bei diesem Rat sagen „Aber dann ist meine Tochter sauer!“Dann hilft es, wenn dann von mir als Betroffener kommt „Dann ist sie eben mal sauer! Na und? Das legt sich auch wieder!“
Und genau das ist die große Schwierigkeit für Angehörige: Einerseits geht es um das eigene Kind, das sie lieben und das sie nicht leiden sehen möchten. Aber auch die Angehörigen sollen das Leben haben dürfen, das für sie gut ist. Wie finde ich als Angehörige heraus, wann ich liebevoll begleiten sollte und wann ich eine Grenze ziehen darf?
In der Gruppe finden es die Angehörigen interessant, auch mich als Betroffene fragen zu können und zu hören, wie meine Mutter und ich bei gelernt haben, in schwierigen Situationen gut miteinander umzugehen. Es hat auch bei uns gedauert. Ein Rat von mir ist es dabei immer: Reden Sie mit Ihrem Kind. Aber bitte nicht immer nur über Medikamente, Psychiatertermine, Krankheitseinsicht oder Wohnungsordnung. Das sind die Probleme und Sorgen von Angehörigen, aber nicht unsere! Fragen Sie uns stattdessen nach unseren Sorgen, und davon haben wir viele: Wird die Krankheit weggehen oder weniger schlimm werden? Werde ich irgendwann wieder „normal“ leben können? Werde ich eine Ausbildung, ein Studium machen können? Und was, wenn nicht? Werde ich arbeiten können? Werde ich irgendwann selbstbewusster werden? Werde ich eine Liebesbeziehung haben können? Vielleicht sogar Kinder? Kann ich etwas planen oder muss ich immer wieder damit rechnen, dass eine neue Krise kommt?
H. Peer und J. Berg-Peer – Bericht aus der Online-Angehörigengruppe
Wenn Angehörige über die Probleme der Betroffenen und nicht immer nur über ihre eigenen Sorgen reden, dann werden sie verstehen, dass Unordnung in krisenhaften Phasen unser geringstes Problem ist. Wenn sie aber eine gute Beziehung herstellen konnten, weil sie über die Probleme des Betroffenen geredet haben, dann können vielleicht auch andere Themen angesprochen werden. Z.B. ob ein Medikament oder eine Psychotherapie unseren Betroffenen dabei helfen kann, eine Ausbildung zu machen, berufstätig zu sein und auch positive Beziehungen zu anderen Menschen zu haben.
Meine Mutter und ich wissen, dass so eine Veränderung der eigenen Verhaltensweisen nicht nach einem guten Rat gelingen kann. Das geht ja bei uns Betroffenen auch nicht so schnell. Daher kommen auch viele Angehörige immer wieder in unsere Gruppe, um immer wieder zu hören, wie sie sich in bestimmten Situationen verhalten können. Aber manche kommen auch einfach, weil es ihnen gut tut, andere Angehörige zu treffen uns zu erkennen, dass diese ganz ähnliche Probleme haben.
„Ich habe gut verstanden, was ich tun kann, wenn wir in der Gruppe darüber gesprochen haben“, sagt eine Angehörige. „Aber wenn ich dann zuhause mit dem Thema konfrontiert bin, dann werde ich wieder unsicher. Daher komme ich so gern wieder zu Ihnen, weil ich dann immer wieder bestärkt werde, besser mit meinem Sohn zu kommunizieren oder weil ich von Ihnen die Erlaubnis bekomme, auch an meine Bedürfnisse zu denken.“