Janine Berg-Peer/ September 2, 2014/ Alle Artikel, Angehörige/ 0Kommentare

weissergott-160-120Grenzen setzen ist nicht leicht

Es ist nicht leicht, Grenzen zu setzen, vor allem, wenn man so besorgt um sein psychisch krankes Kind ist. Es ist aber dennoch notwendig, wenn wir wollen, dass unsere Kinder trotz ihrer Einschränkung ein möglichst selbständiges gutes Leben führen können. Unsere Kinder brauchen unsere Liebe, aber das heißt nicht, dass wir ihnen keine Grenzen setzen dürfen. Oft verwechseln wir Liebe mit Aufopferung – das ist langfristig für uns kaum auszuhalten und nützt unseren Kinder wenig. Ein Zeitungsartikel, der im Juni 2014 in Zeit-Online erschien, ist für mich ein abschreckendes Beispiel.

Grenzen setzen ist nicht leicht

In Zeit-Online wurde im Juni 2014 unter der Überschrift „Liebe und Angst“ von der Beziehung einer Mutter mit einer Tochter berichtet, die an Schizophrenie erkrankt war. Der Artikel war schön geschrieben, er war beeindruckend und auch berührend. Die Mutter tat alles für die Tochter. Und die Tochter erwartete auch alles von der Mutter. Sie schrieben sich jeden Tag rucola-160-120Briefchen, in denen Stand „Ich hab Dich lieb!“. Die Mutter hielt alles aus, weil die Tochter so krank war. Mir wurde dieser Artikel von Angehörigen und Freunden zugeschickt, immer mit dem Hinweis, das er beeindruckend sei. Oder dass es  ja wirklich ganz furchtbar sei, ein Kind zu haben, das an Schizophrenie leide. Ich habe mich über diesen Artikel geärgert, sehr geärgert! Ich hänge den ganzen Artikel weiter unten an, man kann ihn dann selbst lesen und sich ein Bild machen.

Ich zitiere:

Die Mutter hatte nun einen Freund, der manchmal neben ihr schlief, an Sylvester stand er in der Küche und kochte, Kürbissuppe, Gulasch, Bratkartoffeln, Gemüse, Salat, aber Lea hatte Hunger, Lea wollte sofort essen, sie griff in seine Töpfe, Lea, lass das sein, sie griff in seine Töpfe, lass das bitte sein Lea, verdammt noch mal, und ich stand dazwischen, zwischen ihm und ihr, zwischen Mann und Tochter, Lea lärmte, Du bist ein Arschloch, ein Riesenarschloch, du störst hier nur, hau ab. Der Mann zog die Schürze aus und ging, aber ich konnte ja nicht wählen, Lea ist meine Tochter.

Wieso muss die Mutter wählen zwischen Mann und Tochter? Die Mutter konnte sich dafür entscheiden, ihrer Tochter Grenzen zu setzen, ihr zu sagen, sie solle aufhören, ihren Freund anzubrüllen, andernfalls könne sie Sylvester nicht mit ihnen feiern. Wenn wir uns terrorisieren lassen, dann lernt der Betroffene, dass er mit diesem Terror durchkommt.

Saure Zitrone

Saure Zitrone

Eine psychische Erkrankung ist keine Entschuldigung für schlechtes Benehmen, das sollten wir uns und unseren Kindern immer wieder sagen. Die Tochter hat sich durchgesetzt, sie hat ihre Mutter wieder für sich allein. Und was wird die Tochter machen, wenn die Mutter nicht mehr lebt?

Grenzen setzen ist nicht leicht

Was mich vor allem geärgert hat, war die Ansicht vieler Menschen, die den Artikel so beeindruckend fanden,  dass dieses Verhalten der Tochter unabwendbar und unveränderbar sei. Und dass es die „natürliche“ Reaktion einer liebenden Mutter sei, loyal zum Kind zu stehen, egal wie es sich benimmt. Verantwortung ja, Loyalität ja, und Liebe sowieso. Aber wieso scheint es unmöglich, einem psychisch kranken Menschen zu sagen, er oder sie solle die Finger aus dem Gulaschtopf nehmen? Und auch einen Menschen, den man mag und der gerade etwas Nettes für als Anwesenden tut, nicht mit Riesenarschloch zu beschimpfen? Die Tochter zeigt in dieser Szene ein durchaus nachvollziehbares Verhalten aus ihrer Sicht: Sie will sofort essen, daher will sie nicht abwarten. Sie empfindet den neuen Mann im Leben der Mutter als Bedrohung ihres Alleinherschungsanspruchs über die Mutter und versucht ihn wegzuboxen. Das ist grundsätzlich nicht krank, sondern nur unbeherrscht und egoistisch. Jeder Mensch darf mal unbeherrscht und egoistisch sein, das passiert uns allen. Aber gerade, weil es keine kranke Reaktion ist, kann man durchaus der Tochter sagen, dass dieses Verhalten nicht erwünscht ist. Davon kann die Tochter nur profitieren, weil sie damit auch lernt, sich in anderen sozialen Situationen angemessner zu verhalten.

Grenzen setzen ist nicht leicht

Wenn wir unsere Kinder ernst nehmen und sie nicht als kranke Wesen betrachten, die niemals in der Lage sind, vernünftig zu reagieren, dann schauen wir auf sie herab. Es ist herablassend, davon auszugehen, dass ein Mensch, auch wenn er psychisch krank ist, keinem klaren Argument gegenüber zugänglich ist.  Das mag in einer hochpsychotischen oder depressiven oder manischen artischocke-160-120Phase anders sein, aber so wurde die Situation nicht geschildert. Also, mein Plädoyer ist es, sehr viel Liebe mit Loslassen und Grenzen setzen zu kombinieren. Das ist nicht einfach, es muss jeden Tag von uns Angehörigen wieder neu austariert werden. Aber vor allem müssen wir erst einmal verstehen, dass wir jedes Recht haben, manches Mal Grenzen zu setzen. Und das genau das unseren Kindern letztendlich auch gut tut.

Bis bald, ich freue mich auf Anmerkungen!

 

Und hier zum Artikel aus Zeit Online:

Schizophrenie: Liebe und Angst | ZEIT ONLINE – Die Zeit

 

 

Über Janine Berg-Peer

Wir bieten monatlich kostenlose Online-Gruppen für Angehörige an. Jeder kann sich anmelden. Termin finden Sie weiter oben im Blog. Alle zwei Monate bieten wir auch englische Online-Gruppen an. Janine: Seit 65 Jahren bin ich Angehörige: Meine Mutter litt an einer bipolaren Erkrankung und meine Tochter erhielt vor 28 Jahren die Blitzdiagnose (zehn Minuten) Schizophrenie. Kurz danach einigten die Profis sich darauf, dass sie an einer bipolaren Erkrankung leidet. Wir hatten gemeinsam schlechte, aber mehr gute Zeiten. Selten sind Menschen mit Krisengefährdung ja immer krank. Henriette: Heute "leide" ich gar nicht mehr an meiner bipolaren Erkrankung. Nein, sie ist nicht weg, aber mir geht es gut mit einer kleinen Dosis an Medikamenten und einem sozialen und sozialpsychiatrischen Netzwerk, das mich stützt. Ich arbeite seit über zehn Jahren als Genesungsbegleiterin, zunächst als ambulante Betreuerin, jetzt seit drei Jahren im Krankenhaus, was mir sehr viel Spaß macht. Dazu gehören auch Workshops mit Polizei, Angehörigen oder auch Pflegeschüler:innen. Gemeinsam unterstützen wir jetzt sei drei Jahren Angehörige. Wir berichten von unseren guten und schlechten Erfahrungen und beraten sie oder geben ihnen Hinweise, die sie übernehmen können oder eben nicht. Ich als Betroffene freue mich schon lange wieder am Leben, an meiner Arbeit, meinen Freund:innen und an meinem Kater Giacometti. Ich lese gern, höre sehr gern Musik und liebe Filme. Janine: Auch ich freue mich trotz allem immer noch am Leben, lese viel, liebe meinen Kater Basquiat, Rosen, Opern und Countertenöre, japanische und koreanische Filme . Gemeinsam schreiben wir an unserem neuen Buch für Angehörige, in dem wir versuchen, ihnen besser verständlich zu machen und warum manche Betroffene tun, was sie tun und wie Angehörige sich Graf einstellen können, um möglichst viele nutzlose Konflikte zu vermeiden. Arbeitstitel bislang: "Mensch Mama, mach Dir nicht ständig Sorgen um mich!"

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