Was ist, wenn wir nicht mehr sind?
Am 10.5.2016 fand eine Veranstaltung statt, in der Angehörige sich über Wohn- und Betreuungsmöglichkeiten für ihre erkrankten Kinder informieren konnten. Dieser Termin gehört zu einer Reihe, die von Jutta Crämer, der Vorstandsbeauftragten den Landesverbandes der psychisch Erkrankten in Berlin organisiert wurde. Oberteile ist „Was ist, wenn ich nicht mehr bin?“ und es werden Veranstaltungen zu rechtlichen Fragen, zur Heimunterbringung, zu Betreuungsmöglichkeiten etc. vorgestellt. Die Veranstaltungsreihe stößt auf großes Interesse und ist immer sehr gut besucht. An einem Termin nahm meine Tochter, Henriette Peer, als EX-IN-Absolventin und Bezugsbetreuerin teil. Ich möchte heute ihren Beitrag als Gastbeitrag in meinem Blog vorstellen, weil ich ihn wirklich gut finde.
Was ist, wenn wir nicht mehr sind?
Ich bin Henriette Peer, jetzt 37 Jahre und wurde krank mit 17 Jahren. Ich habe lange Zeit mit meiner Krankheit gekämpft, sie abgelehnt, die Psychiatrie abgelehnt. Jetzt habe ich aber akzeptiert, dass ich lernen muss, mit meiner Krankheit umzugehen, wenn ich ein gutes Leben führen will. 2014 /15 habe ich die einjährige EX-IN-Ausbildung für Betroffene in Münster bei Gudrun Tönnes absolviert, um später im sozial-psychiatrischen Bereich arbeiten zu können. Dazu gehören 12 Wochend-Module und 2 Praktika, die ich in Berlin beim FID – Freundeskreis Integrative Dienste in Spandau machen könnte.
Dort wurde mir dann die Übernahme als Bezugsbetreuerin angeboten. Es ist eine Halbtagsstelle, in der ich eigene Klienten betreue: Ich unterstütze sie im Alltag, gehe in ihre Wohnung oder treffe mich außerhalb. Ich helfe bei Behördenangelegenheiten, versuche sie zu beruhigen, wenn wieder Ängste oder Wahnvorstellungen kommen und ich beantrage ihren Hilfebedarf bei den amtlichen Stellen.
Was ist, wenn wir nicht mehr sind?
Zum dem heutigen Thema möchte ich Ihnen sagen, dass ich gut verstehen kann, dass die Angehörigen hier sich große Sorgen machen, was passiert, wenn sie sehr alt werden oder wenn sie vielleicht nicht mehr leben. Ich kann es verstehen, weil ich mir auch selbst schon oft Sorgen gemacht habe, was sein wird, wenn meine Mutter nicht mehr lebt und mich nicht mehr unterstützen kann. Wir haben auch beide darüber gesprochen: und wir haben überlegt, dass man eben nicht alles ausschließen kann und auch nicht alles vorhersehen kann. Es ist bestimmt gut, Vorsorgeregelungen zu treffen, und sich zu überlegen, wie das eigene Kind finanziell vielleicht ein bisschen versorgt es nach dem eigenen Tod. Aber alles lässt sich eben nicht planen.
Und deshalb glaube ich, dass das Beste, was man machen kann, ist Betroffene schon so früh wie möglich dabei zu unterstützen, möglichst selbstständig zu werden. Das ist natürlich bei jedem anders, weil ja auch der Krankheitsverlauf immer anders ist. Aber ich glaube heute, dass Selbstständigkeit immer das Beste ist: Selbstständigkeit kann auch heißen, dass man allein, oder in einer betreuten WG oder auch in einem intensiv betreuten Wohnen lebt. Es ist immer besser, wenn man von anderen Menschen unterstützt oder auch betreut wird, als immer nur von den eigenen Eltern. Das macht einen nämlich total unselbstständig. Und dann hat man auch Angst davor, was ist, wenn diese Unterstützung nicht mehr da ist.
Ich glaube auch, dass es wichtig ist, dass man frühzeitig lernt, also wir als Betroffene, möglichst ein gutes Netzwerk zu haben: Das sind natürlich eigene Freunde, obwohl ich weiß, wie schwierig es ist, gerade wenn man oft Krankheitsphasen hat, Freunde zu finden. Ich weiß, dass auch viele Betroffene nicht zu den Veranstaltungen von den Trägern zu gehen: Sie wollen nichts mit den andern Kranken zu tun haben, sie finden die Angebote doof.
Was ist, wenn wir nicht mehr sind?
Ich weiß das auch deshalb, weil es mir leider auch so ging: Ich wollte damit nichts zu tun haben, ich fand die Leute dort blöd. Ich wollte auch keine Unterstützung haben. Ich habe mich mehr als zehn Jahre dagegen gewehrt, eine ambulante Betreuung zu bekommen oder eine andere Art von Unterstützung. Das wollte ich nicht und ich meinte, das brauchte ich nicht. Ich fand einfach alles schrecklich, was mit Psychiatrie zu tun hatte. Irgendwann habe ich dann begriffen, dass es auch an mir liegt, wie es mir geht. Ich muss auch etwas dazu tun. Und manchmal ist die Psychiatrie auch nicht schuld daran, wenn ich Angebote nicht annehme. Natürlich kann man nicht immer mit jedem Betreuer gut. Aber das ist ebenso im Leben. Es hat ja auch was damit zu tun, dass man reift, wenn man versteht, dass man eben auch manchmal mit Menschen auskommen muss, die vielleicht nicht die besten Freunde sind. Ich glaube aber, dass es hilft, wenn man das lernt. Das fällt uns Betroffenen aber so schwer, weil wir immer alles so persönlich nehmen und so schnell entmutigt sind. Aber wir Betroffenen brauchen einfach diese Unterstützung.
Was ist, wenn wir nicht mehr sind?
Ich habe auch eine Bitte an Sie als Angehörige: Machen Sie sich nicht immer so viele Sorgen um ihre Kinder. Ich habe keine Kinder, aber ich kann mir gut vorstellen, dass es schwer ist, sich keine Sorgen zu machen, wenn ein Kind eine so schwere Krankheit hat. Aber durch die Sorgen wird ja auch nichts besser. Im Gegenteil, ich habe mich immer schlecht gefühlt, wenn meine Mutter sich so viel Sorgen gemacht hat. Sorgen, weil ich mich nicht gut ernähre, oder weil ich nicht frühzeitig im Krankenhaus gehe, oder weil ich die Tabletten absetzen könnte. Oder weil sie findet, dass meine Wohnung so furchtbar unordentlich ist. Ich konnte mich nicht so gut dagegen wehren, weil sie ja wahrscheinlich Recht hatte, aber trotzdem, es geht sie eigentlich nichts an, wie es in meiner Wohnung aussieht. Außerdem kann man einfach manchmal seine Wohnung nicht aufräumen, oder die Wäsche waschen oder die Küche sauber machen. Wenn es einem nicht gut geht, wenn man Angst hat, wenn einem so furchtbar viele Gedanken durch den Kopf gehen, auch manchmal schreckliche Gedanken, dann ist einfach die äußere Umwelt überhaupt nicht wichtig. Und wenn dann jemand von außen kommt, und immer etwas von einem will, was man aber gar nicht versteht, dann ist das eine zusätzliche Belastung.
Was ist, wenn wir nicht mehr sind?
Ich bin froh, dass meine Mutter das irgendwann verstanden hat, wenn es auch lange gedauert hat. Und dann hat sie nichts mehr über meine Wohnung gesagt, sondern mich einfach besucht und mit mir einen Kaffee getrunken und ein bisschen geredet. Das hat mir gut getan. Und das hat auch dazu beigetragen, dass mein Unzulänglichkeitsgefühl weniger geworden ist. Und das ist auch genau das, was die ambulanten Betreuer für uns tun können. Es ist nicht ihre Aufgabe, aufzuräumen oder dafür zu sorgen, dass wir sauber angezogen sind. Sondern es ist ihre Aufgabe, mit uns eine gute Beziehung zu haben, damit wir uns langsam wieder aus Krisenphasen herausziehen können oder, dass sie erkennen, wenn wieder eine Krise droht und uns dazu bewegen können ins Krankenhaus zu gehen. Das können sie aber nur, wenn wir eine gute Beziehung zueinander haben und nicht, wenn Sie jemand sind, der nur darauf achten will, dass alles immer ordentlich ist.
Ich bin sicherlich nicht in der Lage, Ihnen einen Rat zu geben. Dazu bin ich überhaupt nicht erfahren genug. Aber eine gute Vorsorge für das Alter ist es ganz bestimmt, wenn Sie frühzeitig eine gute Wohnung oder ein Betreutes Wohnen oder sogar ein intensiv betreutes Wohnen für ihr Kind finden. Ich weiß, dass es viele schreckliche Vorstellungen darüber gibt. Auch ich habe mir das immer ganz furchtbar vorgestellt und war eine Zeit lang wütend auf meine Mutter, weil sie mir vorschlagen wollte, doch in ein betreutes Wohnen zu ziehen. Jetzt weiß ich es aber besser.
Was ist, wenn wir nicht mehr sind?
Auf jeden Fall hier beim FID haben wir wirklich schöne Wohnungen und Räume für unsere Klienten, sowohl für die, die nur wenig Betreuung und für die anderen, die viel Betreuung brauchen. Meine Kollegen haben sich noch nie negativ über die Klienten geäußert, sondern geben sich bei jedem Klienten Mühe, ihm gerecht zu werden. Wenn man überlegt, was ich mit meinen Klienten mache, dann könnte man denken, dass das ja nicht viel ist: Ich besuche sie, ich trinke Kaffee mit ihnen, ich rede mit Ihnen, ich gehe mit ihnen spazieren, begleite Sie zum Arzt, ich unterstütze sie beim Vermieter oder bei Behörden. Ich habe jetzt auch eine Kochgruppe eingerichtet, die ihnen Spaß macht. Und manchmal räumen wir auch gemeinsam die Wohnung auf oder bringen die Pfandflaschen zum Discounter. Ich weiß aber heute, dass das manchmal schon viel ist und dass sie auch durch meine Hilfe immer ein bisschen wieder am normalen Leben teilhaben. Dass da jemand ist, der sich für sie interessiert, ihnen zuhört.
Vielleicht ist das, was wir tun mit unserem Klienten nicht immer genau das, was die Eltern für richtig halten. Aber darauf kommt es nicht an. Meistens sind die Betroffenen ja erwachsene Menschen, die leider ihre Schwierigkeiten haben, mit ihrem Alltag umzugehen. Und da sollten Sie nicht nur mit den Eltern zusammen sein, weil sie das in einem Kinderstadium hält. Sie sollten professionelle Hilfe von außen bekommen.
Ich bin sicher, dass ein Teil ihrer Sorgen und Ängste weg sein wird, wenn sie für ein Ihr Kind eine solche Unterstützung gefunden haben.
Die Teilnehmer waren sehr begeistert von Henriette Beitrag. Ich glaube auch, dass es manchmal gut ist, wenn wir auf unsere Kinder hören, und nicht immer meinen, dass wir wissen,w as gut für sie ist.
Bis bald.