Angehörige: Immer Angst und immer Sorgen – geht es auch anders?
Wer von uns kennt das nicht: Wenn Du eine psychisch erkrankte Angehörige hast, dann ist die Angst eine ständige Begleiterin. Du hast Angst, wenn die Erkrankte nicht ins Krankenhaus will, wenn die Erkrankte im Krankenhaus ist und wenn die Erkrankte wieder aus dem Krankenhaus kommt. Wovor haben wir so viel Angst? Wir machen uns
Sorgen, weil wir nicht wissen, wie es mit dem Leben des Betroffenen weitergeht. Wird er oder sie in einer eigenen Wohnung gut für sich sorgen können? Und wenn er oder sie das nicht kann: Könnten andere Mieter sich beim Vermieter beschweren und es zu einer fristlosen Kündigung kommen? Oder die Betroffenen wohnen noch oder schon in unserer Wohnung. Wie können wir erreichen, dass die Betroffenen sich wenigstens bis zu einem gewissen Grad an gemeinsame Regeln des Zusammenlebens halten? „Wir müssen uns doch nicht immer nach unseren Eltern richten“, sagt ein Betroffener etwas ungehalten zu mir. Nein, das müsst ihr grundsätzlich nicht, aber wenn ihr immer noch bei uns wohnen wollt und von uns versorgt werden wollt, dann müsst ihr es eben doch. Oder? Haben wir Angehörigen nicht auch das Recht auf ein gutes Leben?
Angehörige: Immer Angst und immer Sorgen – geht es auch anders?
Müssen wir es ertragen, dass die Betroffenen jede Nacht laut Rockmusik hören, so dass wir nicht schlafen können und die Nachbarn sich wütend bei uns beschweren? Müssen wir ertragen, dass in der Küche in unserer Wohnung stets ein unvorstellbares Chaos herrscht? Oder, wenn die Betroffenen darauf beharren, sollten wir dann nicht von ihnen verlangen, dass sie nicht mehr bei uns, sondern in einer eigenen Wohnung wohnen? Wir können das gern verlangen, aber die Erfahrung zeigt, dass die Betroffenen sich selten eine Wohnung suchen. Das liegt manchmal an der krankheitsbedingten
Antriebslosigkeit, vielleicht auch an der niedrigen Frustrationstoleranz, weil sie immer wieder als Mieter*innen abgelehnt werden. Es liegt natürlich auch an dem kaum vorhandenen Wohnraum für kleine Einkommen. Und dann tun sie uns wieder leid. Wir wollen ja auch nicht, dass sie in einer beengten scheußliche Wohnung in einem weit entfernten, vielleicht auch scheusslichen, Viertel wohnen. Denn dann kommt sofort wieder diese Angst hoch. Kann ich es von ihnen verlangen, sich eine Wohnung zu suchen und ständig mit diesen Frustrationen fertig zu werden? Ich habe Angst, das Falsche zu machen, zu viel von den Betroffenen zu verlangen, rücksichtslos zu sein. Da ist sie wieder, diese ständige Angst.
Angehörige: Immer Angst und immer Sorgen – geht es auch anders?
Was mache ich, wenn die Betroffenen keine Medikamente nehmen wollen? Was, wenn sie das Krankenhaus rundherum ablehnen? Wenn ich im Internet nach psychischen Krisen googele, dann bekomme ich wunderbare Anweisungen. „Wenn es wirklich zu einer schweren psychischen Krise kommt“, schreibt zumeist ein Psychiater oder ein
Psychotherapeut oder eine auf psychiatrische Erkrankungen spezialisierte Webseite, „dann müssen Sie unbedingt einen Psychiater mit ihm aufsuchen oder mit dem Betroffenen ins Krankenhaus gehen!“ Wie bitte? Haben diese Profis keine Ahnung von der Realität? Welcher Betroffene lässt sich so einfach von der Mama oder dem Papa ins Krankenhaus bringen? Wer als Betroffener keine Medikamente nehmen will, wird es auch nicht tun, wenn wir Angehörigen es wollen. Und wer nicht ins Krankenhaus will, wird ebenfalls nicht auf uns hören. Warum auch? Oft sind es vielleicht junge, aber keinesfalls mehr minderjährige Menschen, die jedes Recht haben, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen. Ja, das sage ich, obwohl auch ich furchtbare Angst hatte, wenn meine Tochter ihre eigenen Entscheidungen getroffen hat. Aber ich bin inzwischen der Meinung, dass psychisch Erkrankte ihr Leben und ihren Handlungen nicht nach den Sorgen und Ängsten von uns Angehörigen ausrichten müssen.
Angehörige: Immer Angst und immer Sorgen – geht es auch anders?
Nur, wie können wir gegen unsere Angst angehen? Es gibt die klugen Bücher, die uns erklären, dass es die Verantwortung der Betroffenen sie, sich um die Betroffenen zu kümmern. Klar. Und dass es unsere Aufgabe sei, uns um uns selbst zu kümmern. Ja, so etwas habe ich auch geschrieben. Das ist leicht geschrieben, aber gar nicht leicht, umzusetzen. Was tun, wenn der Sohn ohne Geld und verwahrlost an der Haustür klingelt und unbedingt reingelassen werden will? Sollen wir ihm sagen, er solle sich doch selbst um eine Wohnung kümmern? Ja, soll er auch. Aber wie bringe ich es übers Herz, ihn einfach nicht in meine Wohnung zu lassen? Was tun, wenn die Tochter 10 mal am Tag anruft und unbedingt mit uns reden will oder traurig ist oder wütend ist oder verzweifelt ist. 10 Anrufe am Tag hält niemand aus, aber wie bringe ich es übers Herz, ihr zu sagen, dass sie nicht so häufig anrufen soll? Und danach einfach nicht ans Handy zu gehen, wenn sie doch immer wieder anruft oder Whatsapps schickt?
Angehörige: Immer Angst und immer Sorgen – geht es auch anders?
Auch wenn es uns unendlich schwerfällt, wenn es uns manchmal das Herz bricht: Es ist richtig, Grenzen zu setzen. Es ist richtig, auch einmal NEIN zu sagen. Es ist richtig, auch einmal zu sagen, dass uns etwas zu viel wird oder dass wir einfach keine Lust haben, 10 mal am Tag ans Telefon zu gehen. Wir müssen uns ein Herz nehmen und in Kauf nehmen, dass wir manchmal nicht wissen können, was passiert, wenn wir einmal NEIN gesagt haben. Wenn wir die Haustür nicht aufgemacht haben. Aber wir wissen auch nicht , was passiert, wenn wir nicht NEIN sagen. Es ist das Schicksal von uns Angehörigen, das wir lernen müssen, mit Unsicherheit zu leben. Wir müssen Risikokompetenz erwerben. Etwas tun, ohne genau zu wissen, wie es sich auswirken wird.
Dazu sagte meine kluge Tochter Henriette „Aber das müssen wir doch auch! Auch wir wissen nie, was im nächsten halben Jahr passiert. Ich kann keine Pläne machen, was ich in drei Jahren tue, vielleicht für ein Jahr nach Frankreich gehen. Ich weiß doch gar nicht, ob ich dann mal wieder in eine Krise gerade und ins Krankenhaus gehen muss. Ich lebe ständig mit der Unsicherheit, wie es mit meinem Leben und mit meiner Gesundheit weitergehen wird!“
Angehörige: Immer Angst und immer Sorgen – geht es auch anders?
Diese Angst, die Ungewissheit vor dem, was morgen oder in einem Jahr sein wird, teilen wir Angehörigen mit den Betroffenen. Unsere Aufgabe ist es daher, unsere erkrankten Angehörigen zu stärken, nicht zu schwächen mit unserer Angst. Grenzen setzen, Angst vor Konflikten überwinden, die Realität zu akzeptieren, auch die schwierige Realität, sind erste Schritte in eine gute Richtung. Statt unsere Betroffenen mit unserer Angst zu belasten, sollten wir ihnen Zuversicht geben. Ich weiß, dass das nicht leicht ist. Aber nach vielen Gesprächen mit meiner Tochter weiß ich, dass es für unsere Betroffenen noch viel schwieriger ist. Das hat mich ermutigt. Auch dass ich erfahren habe, dass es ihr besser geht, dass sie mutiger ihre Schritte nach
vorne geht, wenn ich ihr vermitteln kann, dass sie unterstütze, dass ihr Weg der Richtige ist. Und wenn es mal eine Rückschlag gibt? Na und? Sie muss es doch ausprobieren, sonst wird sie nie lernen, wo ihre Grenzen, wo aber auch ihre Möglichkeiten liegen. Auch gesunde Menschen treffen falsche Entscheidungen. Auch sie müssen sich nach einem Scheitern wieder neu aufrappeln und etwas anders versuchen.
Angehörige: Immer Angst und immer Sorgen – geht es auch anders?
Liebe Angehörige, denkt daran, dass unsere Angst und unsere Sorgen keine Krise verhindert. Im Gegenteil, wir fördern die ohnehin vorhandene Unsicherheit bei vielen Betroffenen. Aber wir sollten sie stark machen. Nein, das können wir nicht alleine. Dazu gehört eine gute Unterstützung von Profis, möglichst viel Freunde, möglichst viele Menschen, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben. Ein gutes soziales Netzwerk eben. Und wir sollten ein Teil dieses unterstützenden Netzwerks werden.
Bis bald zum nächsten Beitrag oder bis zur nächsten Online-Gruppe für Angehörige. Hier noch mal die Termine.
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