Janine Berg-Peer/ Oktober 9, 2013/ Alle Artikel, Angehörige/ 0Kommentare

artischocke-160-120Angehörige verurteilt: Sozialpsychiatrisches System versagt?

Im Spiegel vom 7.10.2013 ist zu lesen, dass ein Gericht Angehörige zu Freiheitsstrafen verurteilt hat, weil sie „den psychisch kranken Familienvater haben verhungern lassen“. Es ist furchtbar, wenn so etwas passiert, unabhängig davon, war die Schuld hat. Aber liegt die Schuld nur bei den Angehörigen? Der Familienvater wurde in der Klinik mit „paranoider Schizophrenie“ diagnostiziert. Die Familie verstand schon diesen Begriff nicht, wie der Spiegel schreibt.  Viel Aufklärung scheint es nicht gegeben haben. Er sollte Tabletten nehmen. Aber er tat das, was viele Angehörige von psychisch Kranken kennen und was Ärzten sowie den anderen Helfern ja auch nicht unbekannt ist: Er verweigerte die Tabletten, warf das Essen an die Wand, wenn die Familie versuchte, die Tabletten ins Essen zu mischen. Er verweigerte dann auch jede Nahrungsaufnahme, er wollte sich nicht vergiften lassen, er hielt sch für Jesus. Alles das sind bekannte Phänomene für erfahrene Ärzte, Sozialarbeiter und Angehörige. Nicht jedoch für die völlig überforderte Familie, die zusätzlich ums finanzielle Überleben kämpfte. Und, so scheint es, er wurde auch noch körperlich aggressiv gegen seine Frau, die jetzt ins Gefängnis muss.

Angehörige verurteilt: Sozialpsychiatrisches System versagt?rucola-160-120

Die völlig überforderten und verängstigten Angehörigen dachten, „es wird noch“. Auch das ist etwas, was viele Angehörige kennen. Wir hoffen immer, dass bestimmte Symptome von selbst weggehen. Das taten sie in diesem Fall nicht. Und nun wird es interessant: Eigentlich gab es viele Hilfsinstanzen. Mit dem Fall waren befasst das Betreuungsgericht, ein Betreuer, die Sozialstation, der Hausarzt und Ärzte in der Psychiatrie. Aber, schreibt der Spiegel: Keiner hat etwas mitbekommen. Wie kann das sein? Angehörige erstaunt das nicht, denn viele von uns machen die Erfahrung, dass sich niemand kümmert, nur wir. Aber vielleicht können das nicht alle Angehörige, vor allem diejenigen, die gleichzeitig noch viele andere Probleme in ihrem Leben zu bewältigen haben. Als es ganz schlimm wurde, war der Betreuer im Urlaub, da hatten sie keinen Ansprechpartner. Warum sich der Hausarzt nicht gekümmert hat, obwohl doch der Familienvater schon so lange nicht mehr dort war? Er hätte doch bei einem anderen Arzt sein können, meint der Hausarzt. Als der Familienvater aggressiv wurde, hat die Angehörige den Betreuer angerufen, er kam dann in die Klinik, war dort unauffällig und wurde wieder nachhause geschickt. Auch das kennen viele Angehörige. 

Zwiebeln-pixelio-160-120Angehörige verurteilt: Sozialpsychiatrisches System versagt?

Die Angehörigen verschweigen, dass der Familienvater in die Wohnung macht, Haushaltsgegenstände zerstört, der Frau das Messer an den Hals setzt. Und er droht: Wenn ihr mich in die Klinik bringt, dann bringe ich mich um. Das haben sie nicht erzählt, wem auch, aber vor allem, weil sie sich geschämt haben. Hätte ein Besuch des Betreuers oder der Sozialstation zuhause nicht etwas Licht in das Geschehen bringen können? Hätte eine erfahrene Sozialarbeiterin dabei nicht erkennen können, dass hier etwas gravierend falsch läuft? Aber es ist niemand gekommen. Auch der Betreuer kann sich nur kümmern im Bereich „des Machbaren“, wie er sagt. Seit einem Klinikaufenthalt 2010 hat niemand mehr nach dem Kranken oder seiner Familie gesehen. Aber auch ohne Hilfe von außen musste und konnte  die Angehörige  erkennen, wie es um den Vater steht, sagt der Richter. Sie hätte sich Hilfe von außen holen müssen, findet er. Ja, das hätte sie. Aber niemand, der diese Situation nicht kennt, kann beurteilen, wie hilflos und handlungsunfähig man in so einer Situation sein kann. Aber hätten die Institutionen nicht auch erkennen müssen, dass hier etwas falsch läuft? Vermutlich hat hier rein formal niemand etwas falsch gemacht, aber hätten sie nicht mehr tun können?

Wenn die mit dem Fall befassten Institutionen nichts falsch gemacht haben, dann ist das System falsch. Dann müssen andere Voraussetzungen geschaffen werden, damit Hilfe zu den Menschen kommt, vor allem zu denen, die sich nicht selbst helfen können. Aber es ist die Angehörige, die im Namen des Volkes eine Haftstrafe von 3 Jahren und 9 Monaten bekommen hat. Weil das System versagt hat?

„Papa wollte keine Hilfe!“artischocke-160-120

Angehörige wissen, wie das ist, wenn Betroffene keine Hilfe wollen. Keine Tabletten, kein betreutes Wohnen, keine Klinik. Und nun schreibt der Spiegel einen für mich überraschenden Satz: Keiner sagte den Angehörigen, dass sie sich über den Willen des Vaters hinwegsetzen müssen, weil er sich sonst tothungert. Sie müssen sich über den Willen des Vaters hinwegsetzen? Vor kurzem war noch in der Presse zu lesen, dass es ein Skandal sei, dass Angehörige leichtfertig und gegen ihren Willen die schwierigen Kranken in Kliniken bringen lassen oder sie betreuen lassen wollen… weil es bequemer ist! Und nun wird es dieser Ehefrau zum Verhängnis, dass sie sich nicht über den Willen des Vaters hinweggesetzt hat? Wer erlebt hat, wie ein hochpsychotischer, verängstigter Mensch sich verhält, wenn er in die Klinik gebracht werden soll, muss verstehen, warum Angehörige eher davor zurückschrecken, das zu tun. Wie sollen überforderte Angehörige sich richtig entscheiden: Den Kranken zwingen, ihn in Ruhe lassen, in in ein betreutes Wohnen schicken oder doch lieber zuhause sich terrorisieren lassen? 

Sicher ist das ein Einzelfall, ich will nicht den Fehler derjenigen machen, die das Verhalten einzelner rücksichtsloser Angehöriger oder unqualifizierter Ärzte generalisieren. Aber es ist ein Einzelfall, der symptomatisch ist für das Versagen des Systems. Und wenn der Spiegel korrekt berichtet hat, dann empfinde ich es als einen Skandal, dass hier nur die Angehörige vor Gericht saß und verurteilt wurde, während das Gericht zu dem Urteil kam, dass den Institutionen kein Vorwurf zu machen sei. 

Quelle: eigene Bilder

 

 

 

 

 

 

Über Janine Berg-Peer

Wir bieten monatlich kostenlose Online-Gruppen für Angehörige an. Jeder kann sich anmelden. Termin finden Sie weiter oben im Blog. Alle zwei Monate bieten wir auch englische Online-Gruppen an. Janine: Seit 65 Jahren bin ich Angehörige: Meine Mutter litt an einer bipolaren Erkrankung und meine Tochter erhielt vor 28 Jahren die Blitzdiagnose (zehn Minuten) Schizophrenie. Kurz danach einigten die Profis sich darauf, dass sie an einer bipolaren Erkrankung leidet. Wir hatten gemeinsam schlechte, aber mehr gute Zeiten. Selten sind Menschen mit Krisengefährdung ja immer krank. Henriette: Heute "leide" ich gar nicht mehr an meiner bipolaren Erkrankung. Nein, sie ist nicht weg, aber mir geht es gut mit einer kleinen Dosis an Medikamenten und einem sozialen und sozialpsychiatrischen Netzwerk, das mich stützt. Ich arbeite seit über zehn Jahren als Genesungsbegleiterin, zunächst als ambulante Betreuerin, jetzt seit drei Jahren im Krankenhaus, was mir sehr viel Spaß macht. Dazu gehören auch Workshops mit Polizei, Angehörigen oder auch Pflegeschüler:innen. Gemeinsam unterstützen wir jetzt sei drei Jahren Angehörige. Wir berichten von unseren guten und schlechten Erfahrungen und beraten sie oder geben ihnen Hinweise, die sie übernehmen können oder eben nicht. Ich als Betroffene freue mich schon lange wieder am Leben, an meiner Arbeit, meinen Freund:innen und an meinem Kater Giacometti. Ich lese gern, höre sehr gern Musik und liebe Filme. Janine: Auch ich freue mich trotz allem immer noch am Leben, lese viel, liebe meinen Kater Basquiat, Rosen, Opern und Countertenöre, japanische und koreanische Filme . Gemeinsam schreiben wir an unserem neuen Buch für Angehörige, in dem wir versuchen, ihnen besser verständlich zu machen und warum manche Betroffene tun, was sie tun und wie Angehörige sich Graf einstellen können, um möglichst viele nutzlose Konflikte zu vermeiden. Arbeitstitel bislang: "Mensch Mama, mach Dir nicht ständig Sorgen um mich!"

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