Angehörige werden alleingelassen!
In einer Zeit, in der man besonders viel Unterstützung braucht, werden viele Angehörige allein gelassen. Jahrelang haben die Psychiater/innen und Therapeutinnen nicht mit uns gesprochen. Hatten Sie immer noch im Hinterkopf, dass wir die Verursacher/innen der Erkrankung unserer Kinder sind? Auch wenn die These von der „schizophrenogenen Mutter“ überholt zu sein scheint, spukt der Gedanke, dass wir durch falsche, schlechte, böse, lieblose Erziehung unsere Kinder psychotisch haben werden lassen, immer noch in vielen Köpfen der Fachleute. „Das ist doch heute nicht mehr so!“ höre ich von vielen Fachleuten oder auch von einer Journalistin, die mich zu meinem Buch interviewte. „Das war doch sicher nur vor 16 Jahren so. Heute machen doch die jungen Mütter sicher ganz andere Erfahrungen!“ meinte sie. Ich würde das auch denken, wenn ich diese Journalistin wäre. Immerhin ist doch die Forschung eine großes Stück weiter gekommen und es gibt genug Bücher und wissenschaftliche Artikel, die andere Erklärungen bieten. Aber die vielen Anrufe und Mails, die ich nach meinem Buch und den Talkshows erhielt, zeigen, dass es noch nicht – immer – anders ist. Natürlich tragen die Betroffenen die größte Last, das vergisst niemand von uns Angehörigen. Aber danach sind wir es, die an der Krankheit und ihren Folgen leiden.
Angehörige werden alleingelassen!
Wir kümmern uns, wir regeln vieles, wir kommunizieren, wir bieten soziale Anregungen, wir geben Geld, wir achten auf die physische Gesundheit und wir sind nachts um 3:00 am Telefon, wenn unsere Kinder unglücklich sind oder Angst haben. Aber die Fachleute helfen uns selten, geben uns kaum einen sinnvollen Rat. Manchmal denke ich, dass auch Fachleute, vor allem die Ärzte, überfordert sind. Sie wissen auch nicht, was man tun soll, wenn die Tochter einen anbrüllt oder der Sohn unendliche Geldforderungen stellt oder die nächste Wohnungskündigung droht. Aber dann sollten sie es auch sagen. Statt ein Gespräch mit uns abzulehnen könnten sie einfach mal sagen, dass es ihnen leid tut, dass wir so belastet sind, dass sie aber auch nichts anderes tun können, als unsere Kinder im Krankenhaus oder der niedergelassenen Praxis so gut wie möglich zu behandeln. Manchmal reicht ja schon ein bisschen Mitgefühl.
Dennoch mache ich im Moment eine gute Erfahrung: Junge Ärzte reden mit mir, machen mir Mut, behandeln meine Tochter gut, so dass sie gern zu ihnen geht. Sie sprechen mit der Soziotherapeutin alles ab und sagen mir, ich solle mehr an mich denken, sie würden helfen, so gut es geht. Das ist ein Lichtblick und zeigt – vielleicht -, dass es eine neue Generation von Ärzten gibt!
Angehörige werden alleingelassen!
Aber es sind ja nicht nur die Ärzte, die uns alleinlassen. Auch von Freunden und von der Familie würden sich viele von uns mehr Unterstützung wünschen. Wie kommt es, dass nette Freunde und liebevolle Familienmitglieder plötzlich bei einer psychischen Krankheit so wenig Unterstützung geben? Oft wird gesagt, dass sie vielleicht Angst haben vor diesen Krankheiten. Aber da hilft doch Nachfragen und Gespräche, in denen genau abgeklärt werden kann, was vielleicht wirklich bedrohlich ist (meistens ist es das ja nicht!) und was vielleicht nur lästig oder peinlich ist. Bitten wir auch immer um Hilfe? Ich weiß von mir, dass ich das nicht immer getan habe. Viele Angehörige fragen nicht, weil es ihnen zu sehr wehtut, wenn Verwandte und Freunde ablehnend reagieren. Oder wenn sie es einfach immer wieder vergessen, unsere kranken Kinder mal anzurufen oder ihnen € 10 für ein Päckchen Zigaretten zu schicken. Auch wir wollen nicht immer wieder enttäuscht werden. Aber ich habe eine Bitte an die Freunde und Verwandten: Überlegt euch, was ihr realistisch tun könnt. Niemand von euch kann das Problem lösen und darum bitten wir auch nicht. Aber es gibt Vieles, das ihr tun könntet, und das euch ganz wenig an Zeit oder Geld kosten würde:
Regelmäßig einmal im Monat anrufen und etwas von euch erzählen
Regelmäßig einmal im Monat oder alle 2 Monate ein klitzekleines Päckchen mit Zigaretten oder Geld schicken.
Jeden Monat oder alle zwei Monate eine gemeinsame Fahrradtour, einen Kinobesuch, einen Spaziergang oder einen Cafébesuch oder ein Spaghettiessen
Einmal im Jahr das erkrankte Familienmitglied für eine Woche oder ein Wochenende zu sich einladen.
Ein Jahresabo für eine schöne Zeitschrift schenken.
Ab und zu eine Prepaid-Handykarte kaufen
uvam.
Es sind so kleine Dinge, die man tun kann. Man muss sich nur die Realität vieler Betroffener ansehen: Einsamkeit und wenig Geld, wenig Zuwendung. Und die Realität vieler Angehöriger: Oft sind sie die Einzigen, die den betroffenen etwas Anregung und Trost geben. Und nicht zu vergessen: Es macht uns Angehörige glücklich, wenn wir wissen, dass es auch andere Menschen gibt, die etwas Liebevolles für den Betroffenen tun. Und manchmal gibt es uns auch ein wenig Luft zum Atmen, wenn wir wissen, dass die Tochter oder der Sohn an diesem Wochenende einen kleinen Ausflug mit Tante, Onkel, Schwester, Bruder oder Freundin vorhat. Dann haben wir ein klein wenig Zeit für uns selbst. Und das heißt viel für uns.