Gewalt und Aggression: Perspektive der Angehörigen
Vor einigen Jahren war ich in Wien auf eine Tagung für Pflegefachleute zum Thema „Aggression und Gewalt“ eingeladen, bei der ich die Perspektive der Angehörigen darstellen sollte. Ich finde meinen Beitrag immer noch ganz interessant, so dass ich ihn hier noch einmal einstellen möchte. Zur Definition von Gewalt und Aggression: Nach den vielen interessanten Fachvorträgen habe ich nun eine etwas andere Rolle hier als Angehörige. Ich kann – Gottseidank – wenig über Gewalt und Aggression in Gesundheitseinrichtungen sagen. Stattdessen möchte ich etwas dazu sagen, wie wir Angehörigen mit Gewalt konfrontiert werden.
Dabei lege ich einen erweiterten Gewaltbegriff zugrunde (nach Hurrelmann): Ich beziehe neben physischer auch psychische, verbale, vandalistische Gewalt und strukturelle Gewalt ein. Zunächst einmal: Gewalt und Aggression sind bei Angehörigen ein heikles Thema. Die große Sorge, dass psychisch Kranken immer ein hohes Gewaltpotenzial attestiert wird, lässt uns sehr vorsichtig damit umgehen, was wir tatsächlich immer wieder an Gewalt erleben. Eilig sind wir dabei, darauf hinzuweisen, dass psychisch Kranke nicht gewalttätiger sind als gesunde Menschen, sondern dass sie selbst eher Opfer von Gewalttaten werden. Bei Finzen habe ich allerdings gelesen, dass die Forschungslage ein wenig differenzierter ist: Psychisch Kranke neigen etwas mehr zu Gewalttaten, vor allem, wenn sie keine Medikamente nehmen und jung und männlich sind.
Gern wird in Untersuchungen darauf hingewiesen, dass psychisch Kranke dennoch kaum eine Gefahr für die Öffentlichkeit darstellen, weil sich ihre Gewalttaten eher auf nahestehende Menschen oder Familienmitglieder richten und da zumeist auf die weiblichen Familienmitglieder. Sie werden verstehen, dass mich das nicht wirklich beruhigt.
Umfrageergebnisse BApK – Physische Gewalt: In einer zwar nicht repräsentativen, aber dennoch interessanten Befragung des Bundesverbands der Angehörigen-BApK in Deutschland hat sich ergeben, dass ca. 50% von aggressiven Vorfällen durch ihre Kinder berichten, davon die meisten in der Tat in der Familie oder bei Besuchen der Betroffenen in deren Wohnung. Häufig wurde auch von Vorfällen im PKW berichtet oder in einem Kaufhaus.
Da ich einige Bücher geschrieben habe, bekomme ich viele Anrufe von verzweifelten Angehörigen, die wirklich Angst vor ihren Kindern haben, sich mit ihnen nur an öffentlichen Orten treffen, sich etwa jede Nacht im Heizungskeller verbarrikadieren. Oder die sich regelmäßig von ihren Kindern schlagen lassen. Das ist nicht die Mehrheit, es ist aber dennoch beunruhigend. Ich bin überzeugt davon, dass wir viel zu wenig davon erfahren, was in vielen Familien vor sich geht, weil Angehörige Angst haben, damit an die Öffentlichkeit zu gehen.
Aber Gewalt gegen uns Angehörige existiert, wenn sie auch unterschiedliche Formen annehmen kann:
Es ist gewalttätig, wenn Dinge aus der Wohnung entwendet oder zerstört werden, wenn Geld oder das Handy des kleinen Bruders gestohlen wird oder wenn der Sohn sich weigert, die Wohnung zu verlassen, und die Eltern oder schon gar nicht die Mutter in der Lage ist, ihn zum Verlassen der Wohnung zu bewegen. Es handelt sich um Aggression, wenn das zuhause wohnende Kind wider alle Absprachen nachts laute Rockmusik hört, sich morgens drei Stunden im Badezimmer einsperrt, sich weigert, sich am Haushalt zu beteiligen, die anderen Geschwister ärgert. Auch wenn man weiß, dass es sich um Krankheitssymptome handelt, kann sich dieses Verhalten zu einem Terror für die übrige Familie auswirken.
Ich habe gelitten, wenn meine Tochter mich angeschrien hat, mich mit den Schimpfworten belegt hat und das nicht nur in ihrer oder meiner Wohnung, sondern auch gern mitten in der Fußgängerzone oder in einem voll besetzten Restaurant. Sicher ist das nicht genau so schlimm, als wirklich körperlich angegriffen zu werden, aber glauben Sie mir, es ist eine Gewalterfahrung, wenn man gezwungen wird, etwas zu ertragen, das einem in tiefster Seele zuwider ist.
Auch schwer zu ertragen sind Beschuldigungen, selbst wenn sie nicht lautstark vorgetragen werden:
Du bist schuld an meiner Krankheit,
Du machst Dir ein gutes Leben, ich habe kein Geld habe und bin krank,
Du sperrest mich in die Klapse ein, willst mich ja nur loswerden
Du tust nie etwas für mich, Du denkst immer nur an Dich
Auch unvorhersehbare Wutausbrüche, Gereiztheit, eine feindselige und ständig vorwurfsvolle Haltung, Ausrasten wegen Kleinigkeiten – das alles sind Gewalterfahrungen.
Oft fühlen wir Angehörigen uns manipuliert oder auch erpresst. Auch Erpressung ist psychische Gewalt.
Du siehst mich nie wieder, wenn Du mir jetzt kein Geld gibst, wenn Du mich nicht abholst,
Du wirst Dein Enkelkind nie wiedersehen, wenn Du nicht…
Verkauf Deine Eigentumswohnung, Du bist doch alt, Du brauchst sie doch nicht mehr…, ich brauche aber Geld.
Ich bringe mich um, wenn Du….
Auch das sind Gewalterfahrungen.
Auch Erpressung kann eine gewaltförmige Erfahrung sein: Etwa wenn der Betroffene jede Hilfe ablehnt: Das habe ich auch bei meiner Tochter erlebt: Als Eltern fühlt man sich dann gezwungen, nun alles selbst zu regeln. Kaum jemand kann es mit ansehen, dass das eigene Kind die Wohnung verliert und obdachlos wird, dass es kein Geld mehr hat, dass es nichts mehr zu essen hat. Viele Betroffene wollen selbstständig sein, sie sehen aber nicht, oder können nicht sehen, dass sie in bestimmten Phasen manches eben nicht ohne Hilfe hinbekommen. Aus ihrer Weigerung, Hilfe anzunehmen, ergibt sich eine zusätzliche Bürde für Angehörige.
Natürlich könnte man sagen, dass wir uns manipulieren oder erpressen lassen. Aber wer hilft uns dabei, angemessene Copingstrategien zu entwickeln?
Leider kommt es dann auch oft dazu, dass Angehörige beginnen, selbst Gewalt auszuüben. Oft sehen es Angehörige als einzigen Ausweg, selbst auch zu einer Form von Gewalt zu greifen:
Ich helfe Dir nicht mehr,
gebe Dir kein Geld, wenn Du nicht Deine Tabletten nimmst,
wenn Du keine Hilfe annimmst etc.
Das ist sicher keine gute Lösung. Aber viele Angehörige haben nach einigen Jahren schon viel an Kraft und oft auch an Gesundheit verloren und schaffen es nicht mehr, zu neuen Verhaltensweisen zu finden. Für die meisten ist es eine unglaubliche Kraftanstrengung, sich aus dieser emotionalen Umklammerung zu lösen und Grenzen zu setzen.
Was tun gegen diese psychische und emotionale Gewalt?
Wir Angehörigen müssen lernen, loszulassen, Ängste zu überwinden, Grenzen zu setzen und klar und deutlich zu sagen, was wir akzeptieren und was nicht. Wir müssen lernen, welche Unterstützung für unser Kind sinnvoll ist und welche nicht. Dabei sind wir auf Hilfe von Fachleuten angewiesen, die wir aber immer noch nur selten bekommen. Meine Verzweiflung hat mich dazu gebracht, meine Verhaltensweisen zu verändern. Bei meiner Tochter habe ich im Lauf der Jahre gelernt, besser mit bestimmten Symptomen der Krankheit umzugehen, aber es hat Jahre gedauert. Wenn ich mehr Hilfe von Fachleuten gehabt hätte, hätte es nicht so lange dauern müssen.
Es war interessant für mich, als gestern einer der Referenten sagte, wir sollten nicht nur auf die Krise schauen, sondern eher darauf, wie sie entsteht, oder welche Frühwarnzeichen es gibt. Ich hätte mir gewünscht, dass mir das jemand vor 20 Jahren gesagt hätte. Ich habe bei mir auch die Erfahrung gemacht, dass ich anfangs nur auf die Symptome gestarrt habe, Angst davor hatte und hoffte, dass sie bald vorbeigingen. Ich wollte, dass sie weg sind. Ich wusste nicht, welche Frühwarnzeichen ich hätte erkennen können.
Was der Referent ebenso gestern sagte, war, dass wir in einen Dialog mit den Betroffenen gehen sollten. Damit habe ich gute Erfahrungen gemacht, aber auch hier wäre es gut gewesen, wenn mir das jemand zu Anfang der Erkrankung gesagt hätte. Ich habe gemerkt, seitdem ich mit meiner Tochter über ihre Empfindungen, ihre Ängste und ihre Verhaltensweisen gesprochen habe, konnten wir beide viel besser mit den Krisen umgehen. Ich würde sagen, es kam sogar weniger zu Krisen. Meine Tochter hat mir erklärt, warum sie manchmal so wütend ist, und dass es nicht an mir liegt, sondern dass einfach eine so große Wut in ihr ist, die sie dann auch bei mir ablädt. Oder ich habe verstanden, dass sie in manischen Phasen einfach kein Geld mehr hatte: Sie konnte wochenlang kaum schlafen, hat nachts alles weggeraucht und aufgegessen, was sie vorrätig hatte, so dass für den Rest des Monats kaum etwas blieb. Dann hat sie mich angeschrien aus Verzweiflung. Weil ich das so schrecklich fand, bin ich dann oft nicht ans Telefon gegangen, was sie weiter in Verzweiflung gebracht hat.
Das war falsch von mir. Inzwischen habe ich verstanden, wie ich sie in diesen Phasen ganz praktisch unterstützen kann. Ich bringe ihr zwei- oder dreimal die Woche Essen vorbei und Tabak. Oft können wir uns dann auch ganz ruhig unterhalten. Ich besuche sie unabhängig von ihrer Laune kurz, und wenn ich spüre, dass es ihr zu viel wird, gehe ich wieder. Ich kann inzwischen einen lauteren Ton aushalten, weil ich weiß, dass es zur Krankheit gehört. Ich kann ihr besser Grenzen setzen, aber respektiere ihre Grenzen auch besser. Seither ist nichts mehr wirklich dramatisch für mich.
Jetzt komme ich zu struktureller Gewalt: Bei struktureller Gewalt geht es um asymmetrische Machtverhältnisse: Das Opfer von struktureller Gewalt wird aufgrund von Gesetzen, ideologischer Ausrichtung, Hierarchien oder auch Prioritätensetzung zu etwas gezwungen, oder, wie eher in unserem Fall, ihm wird etwas vorenthalten, was es braucht.
Struktureller Gewalt sind wir ausgesetzt, weil wir Angehörigen in der psychiatrischen Hierarchie am untersten Ende stehen: Wenn wir erkennen müssen, dass unsere Bedürfnisse nach Information, Zuspruch, Einbeziehung oder auch Schutz von Psychiatern, Pflegekräften, Therapeuten und Sozialarbeitern missachtet werden, weil man uns nicht ernst nimmt oder weil die Bedürfnisse des Betroffenen immer an erster Stelle stehen müssen.
Das beginnt oft schon in der Klinik, wenn wir zum ersten Mal unser Kind in die Psychiatrie gebracht haben. Wissen Sie, wie schwierig es ist, ein Gespräch mit einem Arzt zu bekommen? Sie haben keine Zeit oder es verstößt gegen die ärztliche Schweigepflicht. Ich möchte betonen, dass ich die ärztliche Schweigepflicht für richtig und wichtig halte. Aber es ist eben ein Unterschied, ob man sie zum Schutz der Patienten anführt, oder als Bollwerk gegen uns Angehörige. Wir haben keine Möglichkeit, ein Gespräch mit dem Arzt zu fordern, wir haben kein Recht dazu. Aber dennoch sollen wir wissen, wie wir uns unseren Kindern gegenüber nun richtig verhalten sollen. Und gerade in dieser Anfangssituation, in der wir zutiefst erschüttert sind über die Diagnose, würden wir ein wenig Trost und Information brauchen, einfach, damit wir wissen, welches die nächsten Schritte sein werden. Schon ein kurzes Gespräch, in dem ein Arzt uns erklärt, warum er nicht öfter mit uns sprechen kann, uns aber Hinweise gibt, wo wir Trost und Rat bekommen können, könnte helfen. Aber wir stehen vor einer Mauer.
Diese strukturelle Gewalt zeigt sich auch, wenn nur den Aussagen der Betroffenen geglaubt wird, aber unsere Aussagen in Frage gestellt werden. Ich habe mich oft gefragt, warum den Betroffenen immer geglaubt wird, wenn sie sich negativ über ihre Angehörigen äußern. Wenn ich allen negativen Äußerungen meiner Tochter über Ärzte und Krankenpfleger glauben würde, dürfte ich sie nie wieder in ein Krankenhaus lassen. Aber Aussagen und Bedürfnisse der Betroffenen stehen immer an erster Stelle. Unsere Perspektive, wenigstens als Ergänzung, ist selten gefragt.
Das merken wir auch bei unseren Besuchen in der Klinik. Ich sage das ungern hier vor vielen Pflegefachleuten, die sicher engagiert und zugewandt ihre Arbeit nachgehen: Wir Angehörigen werden nicht gut behandelt.
Wo ist meine Tochter? Keine Ahnung, wo die sich wieder rumtreibt.
Ich würde gern den Arzt sprechen. Weiß nicht, wo der ist.
Wann kommt er denn wieder auf die Station? Keine Ahnung, müssen Sie eben warten.
Ich leite daraus nicht ab, dass Sie Ihre Patienten nicht gut behandeln, aber es zeigt sich eben auch hier, dass wir in der Hierarchie ganz unten sind. Es geht um die Patienten, aber nicht um uns. Wir sind allenfalls Störfaktoren. Unsere Bedürfnisse spielen keine Rolle. Jetzt könnten Sie sagen, dass
es nicht Ihre Aufgabe ist, sich auch noch um traurige Angehörige zu kümmern. Aber es geht nicht nur um unsere Gefühle (obwohl das auch nett wäre).
Die Tatsache, dass niemand mit uns redet, kann auch für die Patienten negative Konsequenzen haben: Wir unterstützen dann unsere Kinder vielleicht nicht in der richtigen Art und Weise. Oder viele Angehörige, die sich frustriert und gekränkt durch Ärzte und Krankenpfleger fühlen, reden auch vor ihren Kindern schlecht über sie. Das kann nicht gut sein, wenn doch die Betroffenen genau zu diesen Menschen ein Vertrauensverhältnis haben sollen.
Ich bin ganz traurig geworden, als ich gestern von den Kursen gehört habe, in denen Deeskalationsmöglichkeiten aufgezeigt werden. Uns zeigt niemand, wie man eine Situation deeskalieren könnte. Uns zeigt niemand, mit welchen Verhaltensweisen wir rechnen müssen, oder vor allem, welche unserer Verhaltensweisen zu einer Eskalation führen könnten. Sie sind der Meinung, dass sich viele Angehörige nicht optimal gegenüber ihrem Kind verhalten? Sie haben Recht! Wir sind völlig unqualifiziert, um mit einem psychisch erkrankten Menschen gut umgehen zu können – aber dennoch wird uns diese Aufgabe großzügig überlassen. Immer, wenn das sozialpsychiatrische System sich nicht mehr zuständig fühlt, sind wir die letzte Station.
Natürlich gibt es auch in vielen Fällen Gewalt gegen Betroffenen von Seiten der Institutionen, aber das Thema wurde heute schon von mehreren Redner*innen beleuchtet. Daher konzentriere ich mich auf Angehörige.
Natürlich gibt es auch Gewalt von Angehörigen gegenüber Betroffenen: Es gibt Angehörige, die physische Gewalt ausüben, aber auch psychische Gewalt spielt eine Rolle: Kinder werden angeschrien, sie werden eng kontrolliert, ihnen wir nichts erlaubt, sie werden in lebenslanger Abhängigkeit gehalten. Auch das Verleugnen einer Krankheit, die Krankheit nicht akzeptieren, empfinde ich den Betroffenen gegenüber als Gewalt. Aber darüber könnte sicher ein Betroffener viel qualifizierter etwas sagen. Ich habe mich heute auf die Angehörigen konzentriert.
Nach der Klinik setzt sich diese Erfahrung im Hilfesystem fort: Vielleicht wissen Sie nicht, wie schwierig es für eine Mutter ist, wirkliche Hilfe für ihr Kind bei einer dieser Institutionen zu bekommen. Zunächst einmal werden unsere Sorgen nicht ernst genommen. Als ich in einer Krise zum Sozialpsychiatrischen Dienst – SPD lief, sagte eine junge Psychologin herablassend zu mir „Also nur weil Mutti (!) die Wohnung der Tochter unordentlich findet, muss doch nicht gleich jemand vom SPD vor der Tür stehen. Haben Sie doch mal ein bisschen Vertrauen zu Ihrer Tochter!“
Es ging nicht um die Unordnung. Aber meiner Einschätzung, dass eine wirkliche Krise anstand, wurde einfach nicht geglaubt. Am nächsten Tag kam dann die Polizei und brachte meine Tochter mit Handschellen in die Klinik. Ich hätte das meiner Tochter gern erspart. Ich will Sie nicht mit weiteren Beispielen langweilen, aber auch hier spüren wir unsere Machtlosigkeit, hier zeigt sich, dass wir am unteren Ende der Hierarchien stehen.
Es macht hilflos, einfach keinen Ansprechpartner zu haben, der uns wenigstens zuhört und unsere Sorgen ernst nimmt. Wir wollen doch unsere Kinder unterstützen, aber wissen oft einfach nicht, wie wir das machen sollen. Dann machen wir oft das, von dem wir denken, dass es richtig ist. Das ist aber oft nicht das Richtige.
Es ist richtig, dass Betroffene im Fokus stehen, es ist ihr Recht, ihre Bedürfnisse anzumelden. Aber auch Angehörige sind Menschen und ein Menschenrecht sollte nicht über das eines anderen gestellt werden. Betroffene sind immer zu schützen, das halte ich auch grundsätzlich für richtig. Aber ich denke, dass es gut wäre, wenn diese hierarchische Zuordnung durchbrochen würde. Wenn auch unsere Perspektive zumindest angehört würde. Wenn wir Angehörigen wirklich – nicht nur als Empfehlung in Leitlinien – mehr ernstgenommen würden.Ich empfände es übrigens auch als Erstnehmen, wenn mir frühzeitig gesagt worden wäre, was ich falsch mache und mir alternative Verhaltensweisen aufgezeigt worden wären.
Psychische Gewalt erfahren wir auch durch diskriminierende Äußerungen und Schuldzuweisungen im Alltag, in der erweiterten Familie, im Freundeskreis, von Betroffenen oder auch von Professionellen im psychiatrischen System. Hurrelmann spricht hier von dem diskriminierenden Diskurs: Jeder Mensch „weiß“, dass Eltern, vor allem Mütter, die Schuld an den psychischen Erkrankungen ihrer Kinder trifft. Die schizophrenogene Mutter wurde zwar schon lange totgesagt, aber in den Köpfen vieler Menschen, vor allem von Profis sind sie noch sehr lebendig.Oder wie Asmus Finzen so schön gesagt hat: Die wissenschaftlichen Erkenntnisse von früher sind die Vorurteile von heute.
Und da uns Angehörigen bewusst ist, wie über uns gedacht wird, – nicht zuletzt, weil viele Angehörige selbst so gedacht haben, bevor ihr Kind krank wurde -, wagen wir selten, diesen Schuldzuweisungen zu widersprechen und uns zu wehren. Das ist sicher auch ein Grund, warum Angehörige nicht an die Öffentlichkeit gehen wollen, warum sie oft keine Hilfe suchen, wenn sie physischer oder psychischer Gewalt ausgesetzt sind. Irgendwie glauben sie, dass sie vielleicht doch etwas falsch gemacht haben, dass sie den Betroffenen provoziert haben. Herrschende Meinung ist es, dass in einer ordentlichen Familie so etwas nicht passieren kann. Und viele wollen doch eine ordentliche Familie sei. Und wenn sie dann noch einige Male frustrierende Erfahrungen mit psychiatrischen Organisationen gemacht haben, ziehen sie sich frustriert zurück und suchen keine Hilfe mehr, obwohl sie diese dringend benötigen.
Diese Hierarchie der Akzeptanz habe ich auch in Psychosegruppen erlebt. Oft saß ich hilflos ich mit anderen Angehörigen dabei, wenn sich Betroffene und Profis deutlich über unsere negativen Verhaltensweisen ausließen.
„Natürlich gibt es die schizophrenogene Mutter“, wurde uns entgegengerufen.
Diese Mütter sind fürchterlich, sie können einfach nicht loslassen: Mutter wäscht immer die Wäsche, Tochter will das nicht.
Könnte sie nicht freundlich mit der Mutter sprechen…? Vielleicht will sie nur irgendwas für Ihr Kind tun? Selten traut sich ein Angehöriger, einem Betroffenen zu sagen, dass man ihn dort als aggressiv und ungerecht empfindet. Warum wagen wir das nicht?
Auch bei Tagungen oder in Alltagssituationen höre ich immer wieder Aussagen, bei denen ich mich wirklich schlecht fühlte.
„Wenn man Angehörige hat, braucht man keine Feinde!“ rief ein Betroffener munter ins Publikum, als ich meinen ersten Vortrag hielt
„Kein Kind, das eine psychische Krankheit hat, konnte jemals eine echte Bindung zu seiner Mutter aufbauen“, sagt ein freundlicher Moderator und sagt dann weiter „So, Frau Berg-Peer, jetzt freuen wir uns alle auf Ihren Beitrag!“
Wenn bei auch privaten Einladungen über jemanden gesprochen wird, dessen Kind nicht gut performt, kommen immer wieder Bemerkungen, dass in so einer Familie ja nun wirklich nicht alles in Ordnung sein kann. Auch solchen Aussagen zuhören zu müssen, ist eine Gewalterfahrung.
Was ich mir von Ihnen wünsche: Nehmen Sie auch uns ernst, reden Sie mit uns, klären Sie uns auf, erklären Sie uns, was wir in der besten Absicht falsch machen und was wir besser machen können. Wenn Sie sich für Ihre Patienten einsetzen, dann ist es sicher ein Gewinn, wenn Sie vielleicht auch manchmal als Mediator zwischen unseren Kindern und uns auftreten. Sie helfen uns damit und damit auch Ihren Patienten.
Ich höre oft, dass es nicht einfach ist mit Angehörigen. Das weiß ich. Wir sind nicht alle nett, aber niemand ist nett, der eine so tiefgehende Erschütterung durch die Krankheit seines Kindes erfahren hat. Vielleicht sind wir dann zu fordernd oder anklagend oder weinerlich. Aber Sie können doch mit den Betroffenen gut umgehen. Sie haben die Ausbildung dafür. Bitte denken Sie daran, dass wir mitbetroffen sind und sehen Sie uns manches nach.
Wenn Sie uns gewinnen, dann können wir alle an einem Strang ziehen – immer im Sinne der Betroffenen.
Bis bald,
Janine Berg-Peer