Janine Berg-Peer/ November 8, 2013/ Alle Artikel/ 0Kommentare

03_ForschungIst eine psychische Krankheit eine Begabung oder gar ein Geschenk?

In www.healthyplace.com wurde diese Woche diese provozierende Frage gestellt. Sie zeigen dort auf, dass Viele auf berühmte Persönlichkeiten mit einer psychischen Erkrankung hinweisen, um zu belegen, dass eine psychische Krankheit eine Begabung oder gar ein Geschenk (Gift = Geschenk oder Begabung)  ist.  Damit geht – angeblich – eine psychische Erkrankung immer mit einer hohen Kreativität, künstlerischer Begabung oder der Fähigkeit, etwas ganz Besonderes im Leben zu erreichen, einher. Es kursieren Listen mit Namen berühmter Persönlichkeiten (auch auf www.healthyplace.com) , die z.B. an einer bipolaren Erkrankung leiden oder die Geschichte des Nobelpreisträger Nash („A Beautiful Mind“) wird als Beleg für die außerordentliche Begabung von Schizophreniekranken genommen. Aber wenn man die Millionen von psychisch Kranken berücksichtigt, ist dann die Aufzählung einiger Künstler/innen oder Wissenschaftler/innen schon ein Beleg für diese These? 

Ist eine psychische Krankheit eine Begabung oder gar ein Geschenk?05_Angehoerige

Wenn man die psychischen, physischen und sozialen Auswirkungen psychischer Krankheiten kennt, die Panikattacken, die Depression, die Aggressivität etc., dann kann ich mir nicht vorstellen, dass man diese These wirklich aufrechterhalten kann. Zumindest nicht diese des „Geschenks“. Ich glaube, wir wissen, dass psychische Krankheiten vor allem für die Betroffenen sehr viel Leid bedeuten, und das oft über lange Lebensphasen. Psychische Krankheiten bedeuten auch Einsamkeit, soziale Isolation, Armut, Ausgegrenztsein. Und wenn man mal die Hochglanzbroschüren durchsieht und über die Personen liest, die dort an psychischen Erkrankungen leiden sollen, dann liest sich das auch nicht so, als ob die Begabung, die sie vielleicht haben, sie über die Erkrankungen oder ihre Krisen hinwegtröstet. Und bei Nash oder anderen, deren Biografien vorliegen, wird auch sichtbar, dass in seinem Leben die Angst und die Einsamkeit und der Schrecken vorgeherrscht hat. 

Ist eine psychische Krankheit eine Begabung oder gar ein Geschenk?

01_TagebuchAuch in Angehörigenkreisen höre ich immer wieder, wie überdurchschnittlich intelligent, künstlerisch, begabt oder sensibel das eigene kranke Kind sei. Wem erzählen wir das? Unseren Kindern? Wie soll es denen eigentlich gehen, wenn wir auf ihre hohe Begabung oder ihre Intelligenz oder ihre Sensibilität hinweisen, sie aber selbst, oft viel realistischer, darunter leiden, dass sie ihre Ausbildung oder ihr Studium nicht abschließen können, Berufe für sie zu belastend sind und ihre Beziehungen, auch die zu uns, darunter leiden, dass sie eben nicht (immer) ausreichend empathisch oder feinfühlig sein können? Ganz zu schweigen von Aggressionsattacken oder mürrischem sozialen Rückzug? Oder erzählen wir uns das, damit wir uns besser fühlen, wenn unser Kind, trotz Krankheit und Not, unheimlich begabt ist? Fühlen wir uns dann besser? Ich glaube nicht, dass wir unseren Kindern damit einen Gefallen tun. 

Ist eine psychische Krankheit eine Begabung oder gar ein Geschenk?

Ich kann verstehen, dass psychisch Kranke sich freuen, wenn sie sehen, dass auch von Krankheit Betroffene Großartiges leisten. Das beruhigt und motiviert. Und das ist gut. Aber was ist, wenn man dann doch nicht schafft, genau so wie diese tollen Künstler zu sein? Vielleicht eher entmutigend? Ich finde, dass Betroffene sich selbst und vor allem wir Angehörigen unseren erkrankten Kindern vor allem dann einen Gefallen tun, wenn wir sie so lassen, wie sie sind. Wir sollten uns mit ihnen über jeden kleinen oder größeren Fortschritt in Richtung Autonomie und gute Bewältigung des eigenen Lebensalltags freuen. Wir wissen, wie viel Anstrengung und Mut das oft schon erfordert. Und wenn ihnen noch mehr gelingt von ganz normalen Dingen, wenn sie eine Beziehung beginnen und erhalten  können, wenn die eigene Wohnung beibehalten werden kann, wenn wieder ein Beruf gelingt, wenn sie einfach viele, viele Tage haben, an denen sie sich gut fühlen, dann ist mir das Geschenk genug. Meine Tochter muss nicht hochintelligent, hochsensibel oder eine Künstlerin sein. Ich wünsche mir für sie ein ganz normales Leben, es darf auch bitte „spießig“ sein. Dreizimmerküchebad, 2 Kinder, netter Mann, der bei der Post arbeitet und am Samstag zum Stammtisch mit den Freundinnen und einmal im Jahr mit den Schwiegereltern ins Erzgebirge zum Wandern.schizo-scheiße-160-120

Wenn ihr etwas von dem gelingt, was sie sich selbst wünscht, dann wäre das ein Geschenk. Mit oder ohne künstlerische Beagbung. Ich finde, psychische Krankheiten sind keine Gabe und kein Geschenk. Ich finde, Schizophrenie ist scheiße! Und, nein, ich wollte nicht wieder auf mein Buch hinweisen. Ich schreibe nur auf, was meine Tochter selbst gesagt hat.

Bildnachweis: © w.r.wagner / pixelio

 

 

 

 

 

 

Über Janine Berg-Peer

Wir bieten monatlich kostenlose Online-Gruppen für Angehörige an. Jeder kann sich anmelden. Termin finden Sie weiter oben im Blog. Alle zwei Monate bieten wir auch englische Online-Gruppen an. Janine: Seit 65 Jahren bin ich Angehörige: Meine Mutter litt an einer bipolaren Erkrankung und meine Tochter erhielt vor 28 Jahren die Blitzdiagnose (zehn Minuten) Schizophrenie. Kurz danach einigten die Profis sich darauf, dass sie an einer bipolaren Erkrankung leidet. Wir hatten gemeinsam schlechte, aber mehr gute Zeiten. Selten sind Menschen mit Krisengefährdung ja immer krank. Henriette: Heute "leide" ich gar nicht mehr an meiner bipolaren Erkrankung. Nein, sie ist nicht weg, aber mir geht es gut mit einer kleinen Dosis an Medikamenten und einem sozialen und sozialpsychiatrischen Netzwerk, das mich stützt. Ich arbeite seit über zehn Jahren als Genesungsbegleiterin, zunächst als ambulante Betreuerin, jetzt seit drei Jahren im Krankenhaus, was mir sehr viel Spaß macht. Dazu gehören auch Workshops mit Polizei, Angehörigen oder auch Pflegeschüler:innen. Gemeinsam unterstützen wir jetzt sei drei Jahren Angehörige. Wir berichten von unseren guten und schlechten Erfahrungen und beraten sie oder geben ihnen Hinweise, die sie übernehmen können oder eben nicht. Ich als Betroffene freue mich schon lange wieder am Leben, an meiner Arbeit, meinen Freund:innen und an meinem Kater Giacometti. Ich lese gern, höre sehr gern Musik und liebe Filme. Janine: Auch ich freue mich trotz allem immer noch am Leben, lese viel, liebe meinen Kater Basquiat, Rosen, Opern und Countertenöre, japanische und koreanische Filme . Gemeinsam schreiben wir an unserem neuen Buch für Angehörige, in dem wir versuchen, ihnen besser verständlich zu machen und warum manche Betroffene tun, was sie tun und wie Angehörige sich Graf einstellen können, um möglichst viele nutzlose Konflikte zu vermeiden. Arbeitstitel bislang: "Mensch Mama, mach Dir nicht ständig Sorgen um mich!"

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