Janine Berg-Peer/ März 24, 2022/ Alle Artikel, Angehörige, Empfehlungen, Kritisches/ 0Kommentare


Krankheitseinsicht – und dann ist alles gut?

Krankheitseinsicht ist ein ständiges Thema zwischen Angehörigen und Betroffenen und führt zu anhaltenden Konflikten. Viele Betroffene weisen es weit von sich, krank zu sein und halten eher ihre Angehörigen für krank, weil sie etwas derartig Unsinniges behaupten.  Sie halten sich nicht für krank weigern sich oft Jahre- oder lebenslang, eine Psychiaterin aufzusuchen, ins Krankenhaus zu gehen oder gar Medikamente zu nehmen.
Wenn wir dann verzweifelt um Hilfe und Rat bitten, dann werden wir mit der  Wunderformal der Psychiater*innen konfrontiert. Anders als wir wissen sie Bescheid. Sie, die sonst nur ungern mit uns sprechen, haben schnell einen guten Rat für uns: „Wenn Ihr Sohn keine Krankheitseinsicht hat, dann kann ich als Psychiater auch nichts tun. Er muss erst mal richtig in der Gosse landen, sonst ändert sich nichts!“ Das hörte ich vor über zwanzig Jahren und mir berichten Angehörige, dass sie das heute noch genau so oft hören. Man kann sich vorstellen, dass eine solche Aussage verzweifelte Eltern nicht tröstet. Mein Sohn soll in der Gosse landen? Nein, das möchten wir uns gar nicht vorstellen und daher versuchen wir auch weiter – erfolglos – unsere Kinder davon zu überzeugen, dass sie krank sei und unbedingt in die
Psychiatrie müssten. Die Reaktion unserer Kinder ist überall gleich: Lass mich in Ruhe, dahin geh ich auf keinen Fall, geh doch selbst in die Psychiatrie, wenn Du die so gut findest!

Krankheitseinsicht – und dann ist alles gut?

Der Hinweis von Psychiater*innen auf die fehlende Krankheitseinsicht hat mich immer schon geärgert. Für mich klingt das so, als ob Betroffene störrisch oder ungezogen seien und einfach nicht einsehen wollen, dass sie krank sind, obwohl sie es doch eigentlich besser wissen müssten. Was bedeutet Krankheitseinsichtüberhaupt? Damit ist gemeint, dass Patient*innen ihre Krankheit akzeptieren, sich eingestehen, dass sie an einer psychischen Erkrankung leiden. Die Einsicht allein hilft aber nicht, hinzukommen muss noch die Compliance kommen, also die Bereitschaft, sich an das zu halten, was Psychiater*innen empfehlen, also Medikamente zu nehmen, ins Krankenhaus zu gehen und auch einen gesunden und ereignisarmen Lebenswandel zu führen. Für Ärztinnen – und leider auch für viele von uns Angehörigen – heißt Krankheitseinsicht in der Regel, dass Patient*innen das tut, was Ärzt*innen ihnen empfehlen. Es gibt allerdings Patient*innen, die zwar eine Krankheitseinsicht haben, aber sich dennoch gegen die Vorschläge von Ärzt*innen wehren.

Wir Angehörigen glauben nach einiger Zeit zu wissen, dass unser Kind krank ist, manche Angehörigen glauben das sogar, ohne dass es jemals zu einer Diagnose gekommen ist. Wir erleben merkwürdige, oft auch extrem schwierige Verhaltensweisen, die auch den Betroffenen selbst schaden können. Ich erlebte meine Tochter als verwirrt,
verbal aggressiv oder vollkommen lethargisch. So war sie aber doch früher nicht? Sie weinte oft, weil es ihr so schlecht ging. Ich sah das und wusste, dass sie psychisch krank war. Ich machte mir Sorgen, weil sie die Medikamente immer wieder absetzte, sie vergaß oder sie nahm wie Kopfschmerztabletten: Immer mal wieder, wenn sie sich gerade nicht gut fühlte. Auch andere Mütter erleben verstörende Verhaltensweisen bei ihren Kindern: Eine Tochter leert den Kühlschrank der Mutter, weil darin giftige Lebensmittel seien oder ein Sohn zwingt den Vater, eine Maske zu tragen – lange vor Corona -, weil aus seinem Mund giftige Dämpfe austreten. Manche fühlen sich verfolgt und glauben, dass der Nachbar merkwürdige Geräusche in seiner Wohnung macht, mit denen er Informationen über den Betroffenen an gefährliche Mächte sendet. Wieder andere Kinder reisen durch die Welt und die Mutter ist in ständiger Aufregung, weil sie jederzeit wieder einen Brandanruf der Polizei in Bangkok, Paris oder auch Chemnitz erwartet, die sie auffordert, das Kind umgehend zurückzuholen.

Krankheitseinsicht – und dann ist alles gut?

Können oder wollen sie nicht einsehen, dass sie krank sind? Die Weigerung lässt uns hilflos bis wütend zurück und daher lohnt es, sich einmal damit zu beschäftigen, wie es überhaupt zu fehlender Krankheitseinsicht kommt. Die Unfähigkeit, eine Krankheit zu erkennen, gibt es wirklich. Sie wird als Anosognosie bezeichnet und scheint besonders als Symptom bei Schizophrenie oder bei bipolaren Erkrankungen vorzukommen. Sie
kann allerdings auch als Folge eines Schlaganfalls vorkommen. Der amerikanische Psychotherapeut und Autor Xavier X. Amador  geht davon aus, dass etwa 40 Prozent von Menschen mit Schizophrenie ihre Krankheit nicht erkennen können. Wenn aber fehlende Krankheitseinsicht ein Symptom der psychischen Erkrankung Krankheit ist, dann müssten doch Psychiater*innen und Angehörige verstehen, dass sie dieses Symptom durch unentwegtes Drängen nicht zum Verschwinden bringen. Das würde ja auch bei einem Verfolgungswahn, der auch ein Symptom einer psychischen Erkrankung sein kann, nicht funktionieren.
Es ist richtig, dass viele Betroffene uns immer wieder versichern, dass sie nicht krank seien und daher auch keine Behandlung brauchen. Das ist auch logisch, denn wer nicht krank ist, braucht auch keine Medikamente. In der privaten Realität, wie der Psychiater Achim Haug einen Wahn nennt, haben Betroffene keine psychische Krankheit und verstehen daher auch nicht, weshalb Eltern oder Ärzt*innen sie unentwegt davon zu überzeugen versuchen, sie seien eben doch krank. Sie empfinden uns Angehörige als lästig, oder schlimmer, als bösartig, weil wir versuchen, ihnen etwas einzureden, was nun wirklich keinen Sinn macht. Viele Angehörige berichten, dass ihre Kinder stattdessen sie beschuldigen, selbst krank zu sein. Auch das macht in der privaten Realität Sinn. Wenn unsere Angehörigen ständig etwas so Unsinniges behaupten, sind sie dann vielleicht selbst psychisch krank?

Krankheitseinsicht – und dann ist alles gut?

Nicht nur Anosognosie, sondern auch Verdrängung. Nachdem ich endlich meine Tochter nicht mehr drängte, sondern  begann, mich mit ihr zu unterhalten und sie zu
fragen, warum sie denn nicht ins Krankenhaus und auch keine Medikamente nehmen wollte, stelle sich schnell heraus, dass sie keineswegs an Anosognosie litt, sondern den Gedanken, psychisch erkrankt zu sein, einfach verdrängen wollte. Sie wollte diese Krankheit nicht haben und dachte, wenn sie die Krankheit einfach negiert, dann ist sie auch nicht da und dann braucht sie auch keine Medikamente zu nehmen. Aus ihrer Sicht war das nur logisch. Sie konnte die psychische Krankheit nicht in ihr Identitätskonzept integrieren. Sie wollte einfach nicht zu den Menschen gehören, die psychisch krank sind. Wenn man die negativen Bilder von psychisch Erkrankten in der Gesellschaft berücksichtigt, dann ist der Wunsch, die Krankheit nicht wahrhaben zu müssen, gut nachvollziehbar.

Warum weigern sich Betroffene, ins Krankenhaus zu gehen? Selbst wenn ein gewisses Verständnis für die eigene Erkrankung vorhanden ist, bedeutet das noch lange nicht, dass die Betroffenen sich auch behandeln lassen. Wir Angehörigen kennen das: Betroffene wollen nicht ins Krankenhaus, wehren sich mit Händen und Füßen oder auch mit aggressiven Äußerungen gegen diese Zumutung. Sie drohen ihren Eltern mit Kontaktabbruch, weil sie unser ständiges Drängen nicht ertragen können. Wir Eltern sind verzweifelt und wissen nicht, was wir tun können. Denn wir sehen einen Krankenhausaufenthalt als einzige Möglichkeit, dass unser Kind eine gute Therapie erhalten wird und geheilt oder wenigstens mit einem deutlich verbesserten
Gesundheitszustand entlassen werden wird.
Meine Gespräche mit meiner Tochter Jahre später zeigten, dass sie sehr nachvollziehbare Gründe dafür hatte, nicht ins Krankenhaus gehen und auch keine Medikamente nehmen zu wollen. Es ging ihr um die Nebenwirkungen der Medikamente, die oft unfreundliche Atmosphäre im Krankenhaus, das Eingesperrtsein, Ärzt*innen, die ihr nicht wirklich zuhörten und das scheußliche Essen.

Krankheitseinsicht – und dann ist alles gut?

Würden Sie denn gern in die Psychiatrie gehen? Angehörige und Ärzt*innen fragen sich immer wieder, warum denn ein Erkrankter nicht ins Krankenhaus gehen möchte. Aber eigentlich ist das nicht erstaunlich. Wer möchte schon gern in die Psychiatrie gehen? Möchten Sie dorthin? Ich würde da auch nicht gern hingehen. Es lohnt sich, einmal nachzufragen, warum so Viele nicht in die Psychiatrie gehen wollen.

Oft sind es die negativen Erfahrungen, die Betroffene immer noch in manchen – nicht allen – Krankenhäusern machen. Da sind zunächst einmal die Psychiater*innen, die nicht immer die Zeit haben – oder sich nehmen – um sich ausreichend  mit den Themen des Betroffenen zu beschäftigen. Wie oft habe ich gehört, dass Betroffene tagelang auf das Gespräch mit dem Arzt hoffen, immer wieder vertröstet werden, um dann am Freitag Nachmittag zu erfahren, das der Arzt nicht mehr im Hause sei und der Patient sich bis Montag gedulden müsse. Geduldig zu sein ist aber nun etwas, was psychisch Erkrankten äußerst schwerfällt. Vielleicht gelingt es dem Arzt aber auch nicht, das Vertrauen des Betroffenen zu gewinnen. Vielleicht fühlt der Betroffene sich nicht sicher
bei dem Arzt oder er fühlt sich überhaupt im Krankenhaus nicht sicher. Vielleicht hat er das Gefühl, dass der Psychiater ich nicht wirklich zuhört, sondern schnell eine Diagnose stellt und dann nur noch über Medikamente redet. Vielleicht konzentriert der Psychiater sich auf das falsche Thema und versucht nicht wirklich herauszufinden, was dem Patienten wichtig ist. Vielleicht ist der Arzt nicht flexibel genug und der Patient fühlt sich unterdrückt, wenn der Arzt immer wieder auf seiner Sicht beharrt und ihm ein Medikament verschreibt, dass er einfach nicht nehmen möchte. Manchmal stimmt auch einfach die Chemie zwischen Arzt und Patient nicht.

Krankheitseinsicht – und dann ist alles gut?

Auch die Verhaltensweisen von Pflegenden sind nicht immer darauf ausgerichtet, dass sich Patient*innen wohlfühlen. Das liegt vielleicht nicht immer an den Ärzt*innen und den Pflegenden, sondern auch an Strukturen und Zwängen von Krankenhäusern. Aber das kann ja nicht das Problem des Patienten sein. Insofern könnte man sagen, dass die Abneigung, ins Krankenhaus zu gehen, auch viel mit dem dortigen Personal zu tun haben kann. Mit meiner Tochter habe ich viele Krankenhäuser kennengelernt und es war mir sofort klar, warum sie in das eine Krankenhaus niemals gehen wollte und in ein anderes sehr gern.

Die Nebenwirkungen der Medikamente sind oft so erheblich, dass diese dazu führen, dass viele Betroffene sie gleich ach dem Krankenhaus wieder absetzen. Auch das finde ich verständlich: Viele nehmen extrem zu, hinzu kommt ständige Müdigkeit, Schlappheit, die Kreativität verschwindet du bei Männer kann es zu Impotenz führen.
Auch hier sehe ich die Ärzt*innen in der Pflicht: Sie sollten den Patient*innen gleich zu Beginn erklären, zu welchen Nebenwirkungen es kommen kann. Sie sollten vor allem den Patient*innen versichern, dass sie sofort wieder zu ihrem Arzt kommen sollten, wenn sie Nebenwirkungen nicht aushalten. Dann könne man ein anderes Medikament ausprobieren, so lange, bis die Nebenwirkungen einigermaßen auszuhalten sind oder sogar ganz verschwinden. Manche Psychiater*innen tun das, aber keineswegs alle. Meine Tochter hat das in vielen Jahren nie erlebt.

Krankheitseinsicht – und dann ist alles gut?

Unsinnige oder unerklärte Regeln. Glauben Sie, dass ein erwachsener Mensch, auch wenn er psychisch krank ist, sich gerne Regeln wie in einem Kindergarten unterwerfen möchte? Nein, Sie dürfen nicht um 19:00 ins Bett gehen, Bettruhe für Sie ist erst um 21:00 und erst dann bekommen Sie Ihre Tablette zum Einschlafen. Nein, Sie können nachts nicht rauchen, um 24:00 wird der Raucherraum abgeschlossen. Nein, raus auf den Parkplatz vor dem Krankenhaus zum Betonaschenbecher dürfen Sie nachts auch nicht. Der Raucherraum wird während der Ergotherapieangebote abgeschlossen. Warum? Es gibt noch viele dieser Regeln, die für einen erwachsenen Menschen
unerträglich sind. Ich habe beobachtet, dass vor der Visite 13 Patient*innen vor dem Arztzimmer um drei Stühle rangeln und sofort ins Arztzimmer schießen, sobald ein Patient herauskommt. Manche warten dort über drei Stunden. Muss das sein?

Haben Sie mal das Essen in der Psychiatrie ausprobiert? Auch hier wieder gibt es viele Unterschiede. Ich habe gutes Essen in manchen Krankenhäusern erlebt und in anderen war das Essen einfach nur unappetitlich. Und bei der großen Langeweile – Zitat meiner Tochter – die oft in der Psychiatrie herrscht, ist das Essen oft das Einzige, auf das man sich freut. Darauf sollte in Krankenhäusern auch geachtet werden.

Es gibt noch mehr: Ich glaube, viele Patient*innen würden sich wohler fühlen, wenn die psychiatrischen Kliniken etwas ästhetischer ausgestaltet würden. Graue Linoleumfußböden und blassgrün gestrichene Wände tun der Stimmung nicht immer gut. Es gäbe auch noch viel mehr interessante Angebote, die einen Krankenhausaufenthalt attraktiver machen könnten: Computer gestützte Therapie, Training sozialer Kompetenzen oder auch das MKT – Metakognitives Training könnten eine schöne Ergänzung sein zu Achtsamkeitstraining und Waldbaden.

Krankheitseinsicht – und dann ist alles gut?

Auch das Eingesperrtsein ist für viele Patient*innen ganz schlimm. „Maniker*innen müssen natürlich gleich auf die geschützte Station“, höre ich von Ärzt*innen. Eine wirklich gute Idee! Gerade Menschen in einer Manie, in der ein besonders ausgeprägter Freiheitsdrang vorhanden und es unerträglich für die Betroffenen ist, eingeschränkt zu werden, kommt er auf eine Station, in der die Tür nach draußen immer abgeschlossen
ist. Ist es dann kein Wunder, dass er sich bei der nächsten Manie mit Händen und Füßen dagegen sträubt, wieder ins Krankenhaus zu gehen?

Vielleicht lassen sich alle diese Dinge nicht schnell ändern, manche kann man vielleicht auch gar nicht ändern. Aber wenn Sie mal wieder Ihr Kind davon überzeugen wollen, ins Krankenhaus zu gehen, dann versuchen Sie mit ihm zusammen herauszufinden, was besonders wichtig oder eben besonders schlimm für es ist. Vielleicht lässt sich dann ein Krankenhaus oder ein Psychiater finden, der mehr auf die Bedürfnisse des Betroffenen eingehen kann?

Was sollten wir tun als Angehörige? Oft drängen wir auf einen Krankenhausaufenthalt, weil uns das beruhigt. Wir  wissen dann wenigstens, wo unser Kind ist und das ihm dort nichts passieren kann. Zumindest denken wir das. Oft glauben wir auch nach wiederholten erfolglosen Krankenhausaufenthalten, dass der aktuelle Krankenhausaufenthalt es nun endlich bringen soll. Was ich in 25 Jahren als Angehörige gelernt habe ist, dass nichts gegen den Willen der Betroffenen erfolgreich ist. Oft wird von Ärzt*innen erzählt, dass manche Betroffene ihnen nach einer Zwangseinweisung oder gar Zwangsbehandlung sogar danken, weil es ihnen nun endlich besser geht. Wenn das vorkommt, dann ist es gut gelaufen. Aber ich habe mit
sehr vielen Angehörigen Kontakt, die mir berichten, dass weder eine Zwangseinweisung, noch der zigste Krankenhausaufenthalt irgendetwas gebracht hat. Sprechen Sie mit Ihrem Kind, vielleicht ergeben sich andere Möglichkeiten für eine Genesung, auf die sich die Betroffenen freiwillig einlassen können.

Krankheitseinsicht – und dann ist alles gut?

Ich halte die Aussage „Wenn Ihr Kind nicht will, dann kann man eben nichts machen. Es muss erst in der Gosse landen“, für eine Bankrotterklärung von Psychiater*innen. Was sie uns damit sagen, ist, dass wir selbst irgendwie mit dem erkrankten Kind zurechtkommen müssen, es auch „in der Gosse“ landen lassen sollen. Nicht nur, dass eine solche Bemerkung absolut empathiefrei ist, ich frage mich auch, ob es eigentlich Untersuchungen darüber gibt, dass psychisch erkrankte Menschen, die „in der Gosse“ gelandet sind, nach einer Weile plötzlich sagen „Mensch, eigentlich ist es doch eine gute Idee, ins Krankenhaus zu gehen!“

Psychiater*innen sollten um ihre Patient*innen werben! In der langen Zeit als Angehörige habe ich selten den Eindruck gehabt, dass Psychiater*innen um ihre Patient*innen „werben“, sich also Mühe geben, den Betroffenen zu gewinnen und ihn davon zu überzeugen, dass er doch Hilfe annehmen solle. Ich halte das aber für wichtig, wenn wir hoffen, dass dr Betroffene therapeutische Hilfe annimmt. Müssen es denn auch immer sofort schwere Medikamente sein? Es gibt Krankenhäuser, in denen
die Patient*innen nicht verpflichtet sind, sofort Medikamente zu nehmen, sondern dass ihnen ein wenig Zeit gegeben wird, um zur Ruhe zu kommen, um dann und dann erst später noch mal über Medikamente und andere Therapieformen zu sprechen. Das halte ich für einen guten Anfang.
Vielleicht sollten wir alle auch aufhören, immer daran zu beharren, dass ein Betroffener die psychische Krankheit akzeptiert, also Krankheitseinsicht hat. Viele Gespräche mit Betroffenen verlaufen erfolglos, weil wir ständig drauf beharren, dass er oder sie krank sei. Warum lassen wir denn einmal diese Krankheitseinsicht einfach beiseite und sagen stattdessen „Ich habe das Gefühl, dass es Dir nicht gut geht. Gibt es irgendetwas, dass Dir gut tun würde oder dass ich für Dich tun könnte?“ Wollen wir Recht haben oder wollen wir, dass ein Betroffener in eine Behandlung einwilligt? Dazu muss er doch nicht „zugeben“, dass er krank ist.

Krankheitseinsicht – und dann ist alles gut?

Was wir Angehörigen uns fragen sollten. Drängen wir  auf einen Krankenhausaufenthalt, weil wir glauben, dass dieser unserem Kind gut tut, oder ob es vor allem unserer Beruhigung dient? Gute Gespräche mit unseren Kindern können herausfinden, warum er oder sie keine Behandlung akzeptieren wollen. Vielleicht finden wir gemeinsam etwas heraus, was er oder sie akzeptieren kann? Vielleicht nicht genau das, was wir wollen, sondern wir finden einen Kompromiss? Unsere psychisch erkrankten Kinder sind zwar krank, aber sie sind erwachsen und haben jedes Recht auf ihre eigenen Entscheidungen. Auch dann, wenn diese aus unserer Sicht nicht gut sind.
Wir haben kein Recht darauf zu erwarten, dass unsere Kinder etwas tun, damit wir weniger Sorgen haben. Auf der anderen Seite hat kein Erkrankter das Recht, von seinen Angehörigen zu fordern, dass er oder sie uns immer die Folgen seiner schlechten Entscheidungen trägt.
Aber das erfordert eine veränderte Einstellung bei uns: Statt zu erwarten, dass unser Kind etwas tut, was wir uns wünschen, sollten wir lernen, Grenzen zu setzen und auch Konflikte auszuhalten, wenn wir dann nicht tun, was das Kind sich wünscht oder gar fordert.

Wir alle sollten ein Herz für die Betroffenen ohne Krankheitseinsicht haben. Und wir sollten ihnen zeigen, dass wir sie auch dann lieben, wenn sie nicht das tun, was wir uns wünschen. Dass wir sie auch weiterhin lieben, wenn wir auch einmal sehr klar „Nein!“ sagen. Ich halte eine gute Beziehung zum erkrankten Kind für die einzige Möglichkeit oder eher eine Hoffnung, dass wir dann doch einmal über eine Behandlung reden können. Und wenn es nie dazu kommt, dass der eigene Sohn, die eigene Tochter, Schwester oder andere Familienmitglieder bereit sind, sich behandeln zu
lassen, dann müssen wir ihm oder ihr auch diese Entscheidung zubilligen. Es ist ihr Leben, auch wenn es anders verläuft, als wir es uns für ihn oder sie gewünscht hätten. Unsere Zuneigung und Fürsorge sollten auch sie nie verlieren müssen.

Krankheitseinsicht und dann ist alles gut? Das ist zwar die Hoffnung vieler Psychiater*innen und auch von uns Angehörigen, aber das ist keineswegs immer so. Ich habe mit vielen Betroffenen gesprochen, die durchaus ihre Erkrankung akzeptierten, aber die dennoch immer wieder in eine neue Krise gerierten, obwohl sie brav ihre Medikamente nahmen und auch kein hektisches Leben führten. Auch meine Tochter weiß, dass ihre Akzeptanz ihre Erkrankung keine Garantie auf ein krisenfreies Leben ist.

Bis bald und auf Wiedersehen. Bleiben Sie gesund!

Janine Berg-Peer

 

 

Über Janine Berg-Peer

Wir bieten monatlich kostenlose Online-Gruppen für Angehörige an. Jeder kann sich anmelden. Termin finden Sie weiter oben im Blog. Alle zwei Monate bieten wir auch englische Online-Gruppen an. Janine: Seit 65 Jahren bin ich Angehörige: Meine Mutter litt an einer bipolaren Erkrankung und meine Tochter erhielt vor 28 Jahren die Blitzdiagnose (zehn Minuten) Schizophrenie. Kurz danach einigten die Profis sich darauf, dass sie an einer bipolaren Erkrankung leidet. Wir hatten gemeinsam schlechte, aber mehr gute Zeiten. Selten sind Menschen mit Krisengefährdung ja immer krank. Henriette: Heute "leide" ich gar nicht mehr an meiner bipolaren Erkrankung. Nein, sie ist nicht weg, aber mir geht es gut mit einer kleinen Dosis an Medikamenten und einem sozialen und sozialpsychiatrischen Netzwerk, das mich stützt. Ich arbeite seit über zehn Jahren als Genesungsbegleiterin, zunächst als ambulante Betreuerin, jetzt seit drei Jahren im Krankenhaus, was mir sehr viel Spaß macht. Dazu gehören auch Workshops mit Polizei, Angehörigen oder auch Pflegeschüler:innen. Gemeinsam unterstützen wir jetzt sei drei Jahren Angehörige. Wir berichten von unseren guten und schlechten Erfahrungen und beraten sie oder geben ihnen Hinweise, die sie übernehmen können oder eben nicht. Ich als Betroffene freue mich schon lange wieder am Leben, an meiner Arbeit, meinen Freund:innen und an meinem Kater Giacometti. Ich lese gern, höre sehr gern Musik und liebe Filme. Janine: Auch ich freue mich trotz allem immer noch am Leben, lese viel, liebe meinen Kater Basquiat, Rosen, Opern und Countertenöre, japanische und koreanische Filme . Gemeinsam schreiben wir an unserem neuen Buch für Angehörige, in dem wir versuchen, ihnen besser verständlich zu machen und warum manche Betroffene tun, was sie tun und wie Angehörige sich Graf einstellen können, um möglichst viele nutzlose Konflikte zu vermeiden. Arbeitstitel bislang: "Mensch Mama, mach Dir nicht ständig Sorgen um mich!"

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