Mit festem Ziel in meine absolut unsichere Zukunft
Ein Artikel meiner Tochter Lena: Ich sitze meiner Ärztin gegenüber und wir beide verhandeln meine Entlassungskonditionen. Nun endlich traue ich mich, nach ein paar Wochen stationärem Aufenthalt, meine Ärztin nach meiner Entlassung zu fragen. Ich möchte wissen, ob die Möglichkeit besteht, dass sie mich noch im Dezember 2011 entlassen könnte. Ich wünsche mir im Neuen Jahr die Möglichkeit zu haben, an einem Jahr ohne Krankenhausaufenthalt zu arbeiten. Mein Herz pocht wie verrückt. Ich merke, wie ich innerlich immer nervöser werde und ich frage mich, Mensch, warum sagt sie der nichts, meine Ungeduld steigt ins unermessliche… am liebsten will ich in Ohnmacht fallen…, das dauert aber… gefühlte Stunden vergehen… Sie hört sich an, was ich sage, denkt darüber nach und teilt mir dann mit, dass ich mich an die verabredeten Absprachen kontinuierlich gut gehalten habe und sie der Meinung ist, dass man mich durchaus entlassen kann. Und außerdem kann sie aufgrund meiner Erklärung gut verstehen, dass ich den Aufenthalt gern im gleichen Jahr beenden möchte. Sie ist der Meinung, dass nichts dagegen spricht und so entlässt sie mich dann am letzten Tag des Jahres. Ich kann es nicht fassen, sie stimmt mir zu! Ich werde tatsächlich im alten Jahr entlassen und kann mit neuer Kraft und Energie ins neue Jahr starten. Mich überkommt ein kleines und dann immer größer werdendes Glücksgefühl und so hüpfe ich vergnügt und lachend diesen und die letzten Tage in der Station auf und ab, raus und rein .… Ich war so froh, dass dieses schreckliche Stationenzombiedasein nun endlich ein Ende hat, ich kann wieder etwas fröhlicher dem Leben entgegensehen. Ich bin entschlossen, nach meinen letzten Jahren mit immer wiederkehrenden Aufenthalten und Rückfällen etwas an meinem Leben zu ändern. Jetzt will ich mehr Stabilität in mein Leben bringen. So ganz genau weiß ich noch nicht wie, über das „wie“ muss ich noch nachdenken. Das fällt mir Soziotherapie und Gesprächstherapie ein, da mir beides wirklich immer gut geholfen hatte. Doch ich muss mich auch erstmal damit gedanklich anfreunden, das beansprucht mehrere Tage. Denn zuerst kamen mir diese Möglichkeiten wie ein Versagen meinerseits vor. Ich müsste das doch auch allein schaffen können! Ich stehe vor der Frage, ob ich mehr Stabilität durch Hilfe von außen will oder ob meine Scham, zu versagen, schwerer wiegt.
Mit festem Ziel in meine absolut unsichere Zukunft
Endlich fällt mir meine ehemalige Soziotherapeutin ein, sie war toll und ich fand sie super. Durch Soziotherapie und integrierte Versorgung konnte ich auch schon einmal einen stationären Aufenthalt verhindern. Ich denke darüber nach. Soziotherapie kenne ich. Damals hatte es mir wirklich gut geholfen. Die Soziotherapie hat damals auch dazu beigetragen, dass sich immerhin zwei Jahre als Vollzeitangestellte in meinem Ausbildungsberuf gearbeitet habe. Und das ist mein Ziel: ich will wieder arbeiten, weil es mir immer gut gegangen ist, wenn ich arbeiten konnte. Arbeiten, und nicht nur beschäftigt sein. Dennoch muss ich mich erst einmal an den Gedanken gewöhnen, sie um Hilfe zu bitten, weil das für mich im ersten Moment einem Rückschlag gleichkommt. Aber mein Entschluss, für mich eine zukunftsfähige Veränderung herbeizuführen, ist mir wichtiger als der kurze Moment der Scham, es doch wieder einmal nicht allein geschafft zu haben. Und deshalb traue ich mich nun doch, sie anzurufen. Noch im Krankenhaus nehme ich mein Herz in die Hand und rufe Sie an. Mein Herz pocht wie ein Presslufthammer, ich bin so aufgeregt… es klingelt und klingelt… die Mailbox geht dran. Was nun, denke ich und spreche ihr auf die Mailbox und schon ist der Anruf wieder vorbei. Aber dennoch hinterlässt dieser Anruf bei mir ein Gefühl von Erleichterung, weil es eine große Aktion war, vor der ich große Angst gehabt hatte. Aber schon nach 2 Tagen meldet sich und wir machen einen Termin. Sie kommt sogar zu mir ins Krankenhaus. Bei diesem ersten Treffen sprechen wir darüber, was ich mir von ihr und der Soziotherapie verspreche. Ich merke während des Gesprächs, wie unnütz meine blöde Angst gewesen ist, denn sie ist nett und macht nicht den Eindruck auf mich, dass sie mich als totalen Versager ansieht. Es war total nett und ich weiß noch, dass ich hinterher dachte, wie froh ich war, dass ich mich nun endlich getraut habe. Ich war richtig erleichtert und von nun an treffen wir uns einmal die Woche. Der Entlassungstag ist da, alles ist gepackt und fertig. Eingemummelt in meinen dicken, warmen Wintermantel stapfte ich los. Zuhause angekommen schmeiße ich erst einmal meine Taschen auf das Sofa, falle ins Bett und schlafe sofort ein. So geht es mir ein paar Tage, ich habe den Eindruck, dass die ganze Müdigkeit jetzt mein Körper verlassen muss, weil diese Möglichkeit während des Krankenhausaufenthaltes nicht besteht. Langsam merke ich, wie meine Anspannung mehr und mehr verschwindet. Es dauert aber noch einige Wochen, bis ich wieder etwas agiler werde. Langsam pegelt sich mein Schlafbedürfnis und mein Aktivitätsbedürfnis ein. Ich kann wieder in mein normales Leben zurück.
Mit festem Ziel in meine absolut unsichere Zukunft
Aber zuerst hänge ich doch noch in der Luft, weil ich weder zu einem Job zurückkehren kann, noch irgendetwas anderes habe, durch das ich wieder mehr Zuversicht, Fröhlichkeit und Selbstbewusstsein dem Leben gegenüber entwickeln kann. Und es gibt auch keine Möglichkeit für mich, mich wieder mit anderen Menschen zu treffen. Es gibt zu diesem Zeitpunkt keine Struktur in meinem Leben. Vor der Krankheit hatte mir meine Arbeitsstruktur gegeben. So beginnt der Aufbau meines neuen Lebens. Zu dieser Zeit hat mir sehr geholfen, dass ich mit dem Schreiben angefangen habe. Zunächst jeden Tag eine Seite. Nach dem Krankenhaus hat das Schreiben mir geholfen, Struktur in meinen Tag zu bringen und ich merkte, wie ich immer fröhlicher durch das Schreiben wurde. So vergingen mehr und mehr Wochen. Das Schreiben war wirklich gut für mich, fast wie eine regelmäßige Arbeit. Aber es ist eine einsame Beschäftigung. Ich wollte unbedingt noch etwas anderes arbeiten. Ich wollte eine Arbeit haben, bei der ich gezwungen war, mich mit anderen Menschen wieder auseinanderzusetzen. Meine Arbeit lag schon 2 Jahre zurück und daher traute ich mir in dieser Hinsicht so gut wie nichts mehr zu. Aber das besprach ich dann mit meiner Soziotherapeutin. Gerade nach dem frisch beendeten Krankenhausaufenthalt muss ich mir meine Zuversicht dem Leben gegenüber erst wieder aufbauen. Mein Selbstbewusstsein geht gegen Null und den größten Raum nimmt die Angst ein, von dem was kommt, was wird, was sein kann. Ich glaube, dass diese Angst erst wieder durch Erfahrungen verändert werden muss. Angst ist nach einem Rückschlag nicht der beste Ratgeber in Hinsicht auf Zuversicht dem Leben gegenüber. Und ich bin ganz sicher, dass mir vor allem eine Arbeit aber wirklich helfen kann. Es war gut, dass ich mir ein Ziel gesetzt hatte. Mein Ziel war es, unbedingt ein Jahr ohne einen Rückfall mit Krankenhausaufenthalt zu erleben.
Mit festem Ziel in meine absolut unsichere Zukunft
Ich weiß, das ich Hilfe brauche, wenn ich kein Rückfall haben will und nicht wieder im Krankenhaus landen möchte. Ich erinnerte mich an die Dinge, die mir irgendwann im Leben zu mehr Stabilität verholfen haben und fing mit diesen wieder an. Mit der Soziotherapie hatte ich schon begonnen, aber ich erinnere mich auch daran, dass ich stabiler war, wenn ich eine Gesprächstherapie machte. Auch diese hatte schon einmal verhindert, dass ich wieder ins Krankenhaus musste. Und so machte ich mich mit diesen Hilfen und einem festen Ziel in meine absolut unsichere Zukunft auf, ohne zu wissen was kommen wird und mit viel Angst im Nacken, weil ich an meine vorangegangenen Jahre dachte. Nach zwei Monaten schlug mir meine Sozialtherapeutin vor, ob ich nicht wieder arbeiten wolle, sie kenne da ein Projekt, bei dem ich Kellnern könne. In diesem Projekt könne ich austesten, ob ich das mit der Arbeit und den Kollegen wieder schaffen könne. Diese Idee gefiel mir. So kam ich wieder voller Herzklopfen zu dem Restaurant Pinelli im S-Bahnhof Schöneberg, einem Projekt für psychisch Kranke, bestand die Probetage und ab April arbeitete ich dort im Zuverdienst. Am Anfang war ich sehr ängstlich, super aufgeregt und total nervös. Das legte sich dann aber ziemlich schnell, als ich feststellte, dass ich meine Arbeit ganz gut machte. Ich wurde immer gelassener und selbstbewusster. Die Angst verflog, ich hatte immer mehr Spaß und Freude an der Arbeit, an den Gästen und den Kollegen. Es war für mich plötzlich nicht so schlimm, wenn mal etwas nicht so toll lief. Am meisten liebte ich es, wenn viel Stress war, das Lokal und die Terrasse voller Gäste waren und die Zeit nur so dahinflog. Natürlich gab es auch hier Kollegenzwist, aber durch meinen vorherigen Job kannte ich so etwas schon. In schwierigen Momenten entzog ich mich dem Streit und ging nach draußen, um eine Zigarette zu rauchen.
Mit festem Ziel in meine absolut unsichere Zukunft
Mittlerweile war ich schon routiniert im Kellnern und merkte, dass ich langsam einen Schritt weitergehen könnte. Genau wusste ich noch nicht, wohin dieser Schritt mich führen würde, aber ich wollte weitergehen. Und Arbeit – nicht Beschäftigung – hat mir immer geholfen. Ich überlegte, ob ich einen festen Job suchen sollte oder ob es nicht doch schön wäre, etwas zu lernen um ihr neues Wissen anzueignen. Ich entschied mich für das Lernen, weil ich denke, dass es mich mehr fördert. Im Januar habe ich an einem Kolleg angefangen, mein Abitur nachzuholen. Die Schule macht mir großen Spaß und es läuft auch super. Für mich hat die Schule die Arbeit im Zuverdienst ersetzt. Aber ohne meine Arbeitserfahrungen bei Pinelli würde es mir jetzt wahrscheinlich nicht so gut gehen. Ich glaube, dass es vielen Menschen, die eine Erfahrung mit psychischen Krankheiten haben, gut tun würde, wenn sie arbeiten oder wenn man ihn Arbeit anbieten würde. Keine Beschäftigung – wirkliche Arbeit! Was ich sehr schade finde, ist die Tatsache, dass ich nicht weiter im Café kennen kann, weil ich in die Schule gehe. Aber für meine damalige Situation hat die Arbeit bei Pinelli wirklich viel dazu beigetragen, dass es mir jetzt so gut geht. Mein erstes Etappenziel habe ich erreicht: mittlerweile bin ich über ein Jahr stabil. Meine Erschütterung durch die Krankheiten und die Angst nach dem stationären Aufenthalt sind wieder mehr und mehr einer Zuversicht und einer immer besser werdenden Selbstwertgefühl gewichen. Einen großen Dank an meine Sozialtherapeutin die mir zugetraut hat wieder zu arbeiten und einen großen Dank an das Lokal Pinelli und an meinen Gesprächstherapeuten. Und klar, meiner Familie natürlich auch.
Diesen Artikel hat meine Tochter Lena in der Zeitschrift „Der bunte Spleen“ veröffentlicht, der von psychisch Kranken herausgegeben wird.