Janine Berg-Peer/ Juni 24, 2013/ Alle Artikel/ 0Kommentare

spinach-onions2-79656_original_R_by_espana-elke_pixelio.deNiederschwellig? Stolpersteine in der Heerstrasse

Es wird doch immer von „niederschwellig“ gesprochen. Vor allem Menschen, die aus irgendeinem Grund vom Schicksal benachteiligt wurden, sollen nicht auch noch hohe Stufen oder Hürden begegnen, wenn Sie etwas brauchen. Vor allem, wenn sie etwas brauchen, dass ihnen zusteht und dass der Staat, also wir alle, für sie vorgesehen hat. Diese Überlegung ist  im Bürgeramt Heerstrasse noch nicht angekommen. Aber ich will niemandem Unrecht tun, es ist zumindest bei einer Sachbearbeiterin nicht angekommen. Kennen Sie das? Meine Tochter braucht einen neuen Sozialpass. Dazu muss man eine Bescheinigung vom Bürgeramt haben. Meine Tochter geht dort einmal hin, aber leider läuft ihre Bescheinigung in einem Monat ab, so dass sie den Sozialpass – aber wirklich nur ausnahmsweise, wird ihr beschieden – nur für einen Monat bekommt. Das kann man verstehen. Ordnung muss sein. Vor allem in der Heerstrasse.

Niederschwellig? Stolpersteine in der Heerstrasse

Nun organisiert meine schon aufgeregte Tochter – Sie erinnern sich, sie bekommt ja den Sozialpass, weil sie an einer psychischen Krankheit leidet, auch wenn es ihr zur Zeit sehr gut geht. Und Menschen mit psychischen Erkrankungen sind leichter zu verunsichern und werden schnell nervös, wenn etwas nicht klappt. Das eben ist ein Teil der Krankheit. Nun könnte ich ihr das natürlich alles abnehmen, aber genau das sollen wir Mütter ja nicht, weil wir unseren Kindern etwas zutrauen sollen. Ich traue ihr also brav etwas zu. Sie bekommt einen Bescheid vom Bürgeramt zugeschickt und eilt mit diesem wieder in die Heerstrasse. Zugegeben, sie eilt erst 4 Tage vor Ablauf ihre Sozialpasses dorthin. Klar, das hätte sie viel früher tun müssen, aber so ist das eben. Das passiert kerngesunden Menschen auch. Aber nun ist sie ja voller Zuversicht, denn sie hat die neuen Bescheinigung vom Bürgeramt. Heute wird das Problem gelöst sein.

Niederschwellig? Stolperstein in der Heerstrasse! artischocke-160-120

Natürlich muss sie lange warten. Das macht sie extrem nervös, aber sie will es durchhalten. Dann wird ihre Nummer aufgerufen. „Was ist das denn?“, sagt laut die Sachbearbeiterin? Nein, damit kann ich Ihren Sozialpass nicht verlängern. Da steht ja gar keine Dauer Ihres Rentenbezugs drin. Ich muss ja wissen, bis wann Ihre Rente bewilligt ist!“ Meine Tochter ist fassungslos. Sie liest noch einmal auf der Bescheinigung des Bürgeramts nach. Dort steht. „Frau X. bezieht bis auf weiteres eine Rente. Eine Ende des Rentenbezug ist nicht abzusehen.“ „Ja aber, stammelt meine Tochter, wenn das Ende doch nicht abzusehen ist, dann können Sie mir doch auf jeden Fall den Sozialpass geben!“ „Nein, ich brauche ein konkretes Enddatum. Sie bekommen keinen Sozialpass!“ Nun muss man sich vorstellen, dass diese Bescheinigung aus dem Berliner Bürgeramt kommt, also einer benachbarten Abteilung des Bürgeramts Heerstrasse. Es wäre also, nur so als Überlegung, möglich gewesen, dass die Sachbearbeiterin den Telefonhörer ergriffen hätte und ihre Kollegin, deren Name gut sichtbar auf der Bescheinigung steht, anzurufen und alles abzuklären. Aber das ist natürlich etwas, was eine Sachbearbeiterin nicht tun muss. Das teilt sie auch meiner Tochter mit. „Ich bin nicht dazu verpflichtet, mich zu erkundigen“, schnauzt sie.

artischocke-160-120„Machen Sie doch eine Dienstaufsichtsbeschwerde!“

Meine Tochter bricht in Tränen aus. Wie gesagt, sie ist sehr empfindlich und leicht aus der Ruhe zu bringen. „Nun gehen Sie mal raus und beruhigen sich erst mal“, wird sie unfreundlich von der Sachbearbeiterin angewiesen. Und dann folgt die Empfehlung „Machen Sie doch eine Dienstaufsichtsbeschwerde! Wir haben hier Personalabbau!“ Was die Bescheinigung mit dem Personalabbau zu tun hat, erschließt sich meiner Tochter nicht. Aber die Unfreundlichkeit kommt an.  Das ist zu viel. Sie verlässt schluchzend das Bürgeramt. Und ruft mich an und schluchzt weiter. Was sie denn machen solle, das sei doch nun die Bescheinigung und überhaupt sei die Frau doch so unfreundlich und nun könne  sie sich keine Umweltkarte kaufen… Zwei Tassen Capuccino mit meiner Tochter später  entschliesse ich mich allen therapeutischen Hinweisen entgegen, es nun selbst in die Hand zu nehmen. Ich bin sauer, ich möchte nicht, dass die aktuelle Stabilität meiner Tochter durch solche Erfahrungen wieder zunichte gemacht wird. Ich lese noch einmal den beanstandeten Satz auf der Bescheinigung. „… Ende der Rentenbezugs nicht abzusehen?“ Heißt das nicht, dass die Rente noch lange weiter gezahlt werden wird? Wenn es konkreter sein sollte, müsste dann da stehen „Rente endet erst, wenn ein amtlicher Gutachter bescheinigt, dass meine Tochter nicht mehr krank ist und nie wieder krank werden wird?“ Oder da könnte vielleicht präziser stehen „Rentenbezug endet mit Tod der Rentenbezieherin“. Nur leider lässt ich dafür ja auch kein konkreter Termin nennen.

Niederschwellig? Ja! Die Engel im Bürgeramt Fehrbelliner Platz!07__Blume

Ich rufe den Namen der Sachbearbeiterin an, die auf der beanstandeten Bescheinigung steht. Eine äußerst freundliche Frau Piotr meldet sich. Ja, ich darf sie nennen, das hat sie mir erlaubt. Ich erkläre ihr den Sachverhalt und sie ist voller Bedauern und Mitgefühl. Das täte ihr wirklich leid, aber da hätte doch die Kollegin kurz anrufen können, das machten andere doch auch. Ob ich ganz schnell vorbeikommen könne? Nein, ich müsse nicht warten, ich käme sofort dran, das sei schließlich nicht unsere Schuld. Frau Piotr ist auch noch freundlich, als ich ankomme. Und sie hat ihrer Kollegin, deren Namen ich leider nicht lesen kann (sie hatte mir die Namen aufgeschrieben) die Geschichte erzählt und beide sind empört und  verstehen nicht, warum meiner Tochter mit einem kurzen Anruf nicht geholfen wurde. Sie ruft eine Kollegin an, zu der ich dann mit der neuen Bescheinigung gehen kann. Sie ändert den Bescheid, weil er ein wenig missverständlich sei, macht mir noch eine Kopie (nein, ich muss nicht zur Kasse und mit Wartezeit dort € 0,50 zahlen). Auch die Sozialpasskollegin ist ganz besonders freundlich,  stempelt den Sozialpass für zwei Jahre und wir verabschieden uns freundlich. Ich solle meine Tochter bitte grüßen. So geht es also auch. 

Jetzt kann ich gar nicht mehr auf die Behörden schimpfen, weil sie alle so unfreundlich seien und nichts täten. Stimmt einfach nicht. Am Fehrbelliner Platz sind sie sehr nett. Und schnell. Das habe ich auch schon bei meinen Anliegen dort feststellen können. Noch mal vielen Dank, Frau Piotr. Und an die anderen freundlichen Kolleginnen.

Bildquelle folgt sofort, muss noch mal suchen, sicher von Pixelio.

Blaue Blume ist eigenes Foto.

 

 

Über Janine Berg-Peer

Wir bieten monatlich kostenlose Online-Gruppen für Angehörige an. Jeder kann sich anmelden. Termin finden Sie weiter oben im Blog. Alle zwei Monate bieten wir auch englische Online-Gruppen an. Janine: Seit 65 Jahren bin ich Angehörige: Meine Mutter litt an einer bipolaren Erkrankung und meine Tochter erhielt vor 28 Jahren die Blitzdiagnose (zehn Minuten) Schizophrenie. Kurz danach einigten die Profis sich darauf, dass sie an einer bipolaren Erkrankung leidet. Wir hatten gemeinsam schlechte, aber mehr gute Zeiten. Selten sind Menschen mit Krisengefährdung ja immer krank. Henriette: Heute "leide" ich gar nicht mehr an meiner bipolaren Erkrankung. Nein, sie ist nicht weg, aber mir geht es gut mit einer kleinen Dosis an Medikamenten und einem sozialen und sozialpsychiatrischen Netzwerk, das mich stützt. Ich arbeite seit über zehn Jahren als Genesungsbegleiterin, zunächst als ambulante Betreuerin, jetzt seit drei Jahren im Krankenhaus, was mir sehr viel Spaß macht. Dazu gehören auch Workshops mit Polizei, Angehörigen oder auch Pflegeschüler:innen. Gemeinsam unterstützen wir jetzt sei drei Jahren Angehörige. Wir berichten von unseren guten und schlechten Erfahrungen und beraten sie oder geben ihnen Hinweise, die sie übernehmen können oder eben nicht. Ich als Betroffene freue mich schon lange wieder am Leben, an meiner Arbeit, meinen Freund:innen und an meinem Kater Giacometti. Ich lese gern, höre sehr gern Musik und liebe Filme. Janine: Auch ich freue mich trotz allem immer noch am Leben, lese viel, liebe meinen Kater Basquiat, Rosen, Opern und Countertenöre, japanische und koreanische Filme . Gemeinsam schreiben wir an unserem neuen Buch für Angehörige, in dem wir versuchen, ihnen besser verständlich zu machen und warum manche Betroffene tun, was sie tun und wie Angehörige sich Graf einstellen können, um möglichst viele nutzlose Konflikte zu vermeiden. Arbeitstitel bislang: "Mensch Mama, mach Dir nicht ständig Sorgen um mich!"

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