Heute habe ich mich geärgert, sehr geärgert über einen Artikel im SPIEGEL, in dem die Kategorisierung von psychischen Krankheiten mit einem dümmlichen Beispiel lächerlich gemacht wurde, die Verflechtung von Medizinern und Pharmaindustrie entlarvt und das Einnehmen von Neuroleptika als schädlich gebrandmarkt wurde. Als „Zeugen“ wurden dazu passende Mediziner ausgesucht, die immer schon gewusst haben, dass Pharmafirmen böse und Medikamente gegen psychische Krankheiten – wenn überhaupt – nur den Pharmafirmen nützen.
Es ist richtig, dass es Psychiater gibt, die den Pharmafirmen nahestehen, das sollte auch gesagt werden. Es mag auch sein, dass häufig zu viele und zu wenig überwacht Medikamente genommen werden. Auch das muss man kritisieren.
Aber dieser Artikel spielt wieder denen in die Hände, die immer schon gewusst haben, dass Neuroleptika schädlich sind, dass Ärzte schamlos und Pharmafirmen völlig skrupellos hilflose psychisch Kranke als Geldmaschine benutzen.
Wir Angehörigen und auch viele Psychiater wissen, wie schwer es oft ist, einen psychisch Kranken dazu zu bewegen, die Medikamente zu nehmen, die ihm oder ihr ein gutes Leben schenken könnten. Ich halte es für unverantwortlich, Medikamente gegen psychische Krankheiten in Bausch und Bogen zu verdammen. Wir wissen noch, wie die Situation für psychisch Kranke aussah, als es noch keine Medikament gab. Auch die Aussage, dass z.B. Schizophrenie heute ausschließlich als eine neurologische Krankheit gesehen und und Umweltfaktoren viel zu wenig berücksichtig werden, erstaunt mich. Wo wurde hier recherchiert? Wer sagt das? Und wieso werden hier die neuesten Erkenntnisse der Hirnforschung nicht mit einbezogen? Aber wenn man die Namen der „Zeugen“ dieses Artikels liest, dann ist alles klar: Die meisten verdiente alte Recken der Sozialpsychiatrie, die ihre großen Verdienste – auch und vor allem für uns Angehörige – haben, an denen aber vielleicht manches an neuerer Forschung vorbeigegangen ist, weil es nicht in ihr Weltbild passt.
Richtig ist, dass Medikamente sehr kontrolliert und vorsichtig gegeben werden sollen. Und richtig ist auch, dass Psychiater vielleicht mehr als bislang immer wieder überprüfen sollten, ob die Dosis im Verlauf noch die Richtige ist. Richtig ist es auch, dass es Menschen gibt, die ohne Medikamentengabe wieder gesund werden. Aber die meisten Menschen, die ein- oder mehrfach eine Krankheitsepisode hatten, können vor allem dann ein gutes Leben leben, wenn sie diese Medikamente regelmäßig nehmen.
Worüber der Spiegel wirklich einmal engagiert schreiben sollte ist das, was wirklich nötig wäre, um psychisch Kranken ein gutes Leben zu ermöglichen mit möglichst wenig Tabletten: Ein System außerhalb des Krankenhauses, in dem Menschen wahrgenommen und unterstützt werden, wenn sie in eine Krise geraten. Ein System, dass Menschen nicht nur mithilfe von Tabletten dabei hilft „mit der Krankheit zurecht zukommen“, sondern ihnen den Weg zurück in eine Leben mit Arbeit und Liebe ermöglicht. Es ist gut, dass es eine EU-Rente gibt, es ist nicht gut, wenn immer mehr junge Menschen mit 23 Jahren diese Rente erhalten und sich niemand darum bemüht, ihnen dabei zu helfen, wieder selbst Geld zu verdienen. Es stimmt auch, dass Menschen dann wieder in eine Krise rutschen könnten, aber sollte es den Versuch nicht wert sein, statt sie mit 23 dazu zu verdammen, die nächsten 50 Jahre beschäftigungslos vor sich hinzuleben und als einzigen Außenkontakt den Töpferkurs in einem sozialpsychiatrischen Zentrum zu besuchen?
Wenn Tabletten schlecht sind (was ich nicht durchweg so sehe), dann müsste es ein Anliegen des Gesundheitssystems sein, andere Möglichkeiten zu finden, mit denen psychisch Kranken geholfen werden kann. Aber damit müsste man sich für einen Artikel schon sehr sorgfältig beschäftigen und das gäbe sicher auch nicht so eine schöne Schlagzeile.
Es geht auch anders!
http://www.spiegel.de/gesundheit/ernaehrung/experten-warnen-vor-psychiatrischer-unterversorgung-a-907685.html
Danke für den Hinweis.
Grüße
Janine Berg-Pee