Janine Berg-Peer/ Januar 14, 2021/ Alle Artikel, Angehörige, Empfehlungen/ 0Kommentare

Warum ist es so schwer, Grenzen zu setzen?

Wir alle kennen das aus vielen Alltagssituationen: Wir sagen „ja“, wenn wir eigentlich „nein“ sagen wollen. Wir stimmen zu, obwohl wir eigentlich etwas anderes denken. Wir lassen uns zu einem Ausflug, einem Abendessen oder einem Spaziergang überreden, obwohl wir überhaupt keine Lust dazu haben. Wir übernehmen einen zusätzlichen Dienst oder machen Überstunden, obwohl wir uns etwas Schönes für den Feierabend vorgenommen hatten. Warum ist es so schwer, auch wirklich „nein“ zusagen, wenn wir „nein“ meinen?
Es hat viele Gründe, warum es Menschen so schwer fällt, sich wirklich abzugrenzen. Zum einen wollen wir geliebt werden, wir wollen uns nicht den Unmut des Fragenden zuziehen, wenn wir nicht auf seinen oder ihren Wunsch eingehen. Das ist ein besonderes Problem für Frauen, denn es wird uns von Klein auf beigebracht, dass wir nett sein müssen, dass wir auf andere Menschen eingehen sollten, dass wir auf gar keinen Fall egoistisch sein dürfen. Egoistische Frauen sind böse. Eine Kollegin, die einem Kollegen etwas abschlägt, ist zickig. Frauen sagen ihren Männern nicht nein, weil sie schließlich den ganzen Tag arbeiten müssen und sie, die Frau, ja nun wirklich nur das Kind zum Kindergarten bringen muss, ein bisschen einkaufen, die Wohnung saubermachen und dann noch etwas Schönes kochen darf. Er würde das so gern tun, aber das kann er ja nicht, weil er viel arbeiten muss und gerade heute, wenn Elternabend ist, einen unheimlich richtigen Termin mit seinem Chef hat.

Warum ist es so schwer, Grenzen zu setzen?

Ein Mann, der einem Kollegen eine Bitte abschlägt oder eine Verabredung absagt, ist immer noch nett. Er weiß, was er will und kann Prioritäten setzen. Ich weiß, ich weiß, es gibt auch Männer, die schlecht Grenzen setzen können, aber das ist etwas,  das uns Frauen noch deutlich schwerer fällt.
Oft haben wir auch Angst vor den Konsequenzen, wenn wir eine Grenze gezogen haben, also „Nein“ gesagt haben oder einfach das machen, was wir machen wollen. Denn eine Bitte abzulehnen kann den Unmut des Fragenden hervorrufen. Wir werden bestraft mit schlechter Laune oder gar mit einem lautstarken Konflikt. „Du kannst doch wenigstens einmal etwas für mich…“. oder noch schöner „Ich tue so oft etwas für Dich, da kannst Du doch mal…“. Oder, wie ich das von meiner Mutter so oft gehört habe „Ich bin traurig, wenn Du nicht mal mit mir….“.

Und davor haben wir oft Angst. Wir befürchten, dass jemand traurig oder böse auf uns werden könnte, wenn wir „Nein“ sagen. Diese Angst führt dazu, dass wir es oft nicht einmal ausprobieren und herausfinden können, ob denn diese befürchteten Folgen auch wirklich eintreten. Vielleicht passiert das gar nicht, sondern der Fragende sagt einfach „Ok, wenn es nicht geht, ist auch gut. Ich frage einen anderen Kollegen.“ Oder der Ehemann sagt einfach, „Ok, dann gehe ich eben allein, macht nichts.“ Das werden wir aber nie wissen, denn unsere früh ansozialisierte Angst davor, jemanden traurig gemacht zu haben oder als egoistisch und rücksichtslos angesehen zu werden, hindert uns oft daran, es überhaupt einmal auszuprobieren.

Warum ist es so schwer, Grenzen zu setzen?

Diese Tendenz, die bei vielen Menschen, sehr vielen Frauen und machen Männern anzutreffen ist, ist schon im „normalen“ Leben nicht immer gut, denn die Konflikte, die wir glauben zu vermeiden, kommen an anderer Stelle wieder hervor. Denn irgendwann werden wir wütend, weil wir immer das tun müssen, was der andere will. Das denken wir. Aber das stimmt nicht, denn wir haben entschieden, dass wir nicht „nein“ sagen. Nicht der Andere.

Ganz besonders negativ wirkt sich unsere Tendenz, nicht „nein“ sagen zu können (oder zu wollen) in einer Situation aus, in dem wir mit einem psychisch Erkrankten konfrontiert sind. Hier kommt vieles zusammen: Erstens ist unser Kind krank und wir Mütter kämen uns barbarisch vor, wenn wir nicht alles, aber auch alles für unser erkranktes Kind tun würden. Bei Lebensgefährten ist das übrigens auch nicht ganz anders, wie sich in unseren Gruppengesprächen zeigt. Eine Mutter darf doch zu ihrem psychisch erkrankten Kind nicht „nein“ sagen! Und so gleiten wir vom anfänglichen Schock und dem Bemühen, alles zu tun, damit es dem Kind wieder gut geht, in ein Verhaltensmuster hinein, das unserem Kind nicht hilft und uns selbst erheblich belastet. Ich spreche von unserer Tendenz, uns aufzuopfern. Es spricht nicht dagegen, dass man ein krankes Kinder verwöhnt und mit besonders viel Fürsorge bedenkt. Aber anders als bei einem Blinddarm oder einem gebrochenen Bein ist die psychische Krankheit nicht einfach nach einer gewissen Zeit vorbei, sondern sie kann den Betroffenen und auch uns Eltern sehr, sehr lange begleiten. Es ist auch etwas anderes, wenn wir der Tochter, die auf einer Krücke umherhüpfen muss, die Sachen eine Zeitlang hinterhertragen oder ob wir über Jahre unserem psychisch erkrankten Kind nichts abschlagen, alles für ihn tun, oft auch das, was es durchaus selbst tun könnte.

Warum ist es so schwer, Grenzen zu setzen?

Wir merken, das wir nach Jahren  total erschöpft sind, dass wir nicht mehr können oder sogar nicht mehr wollen. Was wir aber oft nicht merken, ist die Tatsache, dass wir mit dem Aufopfern dem erkrankten Kind jede Möglichkeit nehmen, selbständig zu werden und sich weiterzuentwickeln. „Ich habe einfach keine Kraft und auch keine Lust  mehr, mich ständig für Ich aufzuopfern“, sagte ich (leider etwas lautstark) irgendwann zu meiner Tochter Henriette. Meine Tochter reagierte vollkommen unbeeindruckt. „Ich habe Dich ja nicht darum gebeten, Dich aufzuopfern!“ konterte sie gelassen. „Das war ja Deine Entscheidung.“ Leider hat sie Recht. Wir entscheiden, wie wir uns verhalten. Oder wenn wir es es nicht sind, dann sind es unsere Ängste, die zu der Entscheidung führen, dem Kind alles abzunehmen und vor allem alles an auch schwierigen Verhaltensweisen zu ertragen.
Das führt zum eigentlichen Problem: Wir sagen nicht nein, weil wir Angst vor Konflikten haben! „Meine Tochter ruft mich zehnmal am Tag an, ich halte das nicht mehr aus,“ sagte ein Mutter. Warum sie ihre denn nicht sage, sie solle nicht zehnmal am Tag anrufen, andern nur einmal? „Dann wird meine Tochter sauer!“ kommt als Antwort. „Unser Sohn kommt ständig ohne zu fragen oder sich anzumelden zu uns, wir haben nie Ruhe. Das ist unerträglich“, sagt ein genervt aussendet Vater. Warum er dem Sohn nicht sage, dass er vorher fragen und sich  anmelden solle? Sie ahnen es. „Dann wird er wütend. Oder er hat sich nicht daran, sondern kommt trotzdem.“ Dann machen Sie die Tür nicht auf. Oder nehmen ihm den Haustürschlüssel ab. Das“, sagt der unglückliche  Vater, „geht nicht, denn dann wird der Sohn sauer.“

Warum ist es so schwer, Grenzen zu setzen?

In dem Moment ist die Anwesenheit mein Tochter Henriette, der Erfahrungsexpertin, von größtem Nutzen. „Ja und?“ sagt sie entspannt. „Dann wird er eben mal sauer. Das vergeht schon wieder. Ich war auch oft sauer auf meine Mutter, als sie damit angefangen hat, doch ab und zu mal eine Grenze zu setzen. Aber das ist völlig in Ordnung.“

Wir glauben oft, dass unser armes kranken Kind Vieles nicht kann und wir ihm gar nichts zumuten dürfen. Aber das stimmt nicht. Psychisch Kranke sind vielleicht krank, aber keinesfalls dumm. Sie können vieles, wenn wir sie nur lassen. Sie merken  auch genau, wie sie sich bei uns durchsetzen können und das wenden sie natürlich auch an. Wenn wir jahrelang nie „nein“ gesagt haben und dann plötzlich damit anfangen, dann wird der Betroffene natürlich alles versuchen, um uns von diesem Entschluss wieder abzubringen. Beliebte Sprüche sind dann:
„Du bist das Letzte, ich hätte gern eine Mutter, die mal etwas für mich tut!“
„Du bist die scheußlichste Mutter auf der Welt!“
„Du siehst mich nie wieder!“
„Du siehst Deine Enkelkinder nie wieder er!“

Viele von uns knicken dann wieder ein – zur Freude des Betroffenen (er hat es wieder geschafft!) – und damit zeigen wir ihm, dass er nur sauer oder wütend werden muss und schon bekommt er wieder das, was er möchte. Nein, das tun Betroffene nicht, weil sie böse oder schlecht oder manipulativ sind. Sie verhalten sich so, weil ihnen krankheitsbedingt oft keine adäquaten Verhaltensweisen zur Verfügung stehen, vor allem, wenn, die Krankheit in sehr jungen Jahren begonnen hat. Statt dann selbst sauer zu werden – oder wie ich anfangs, in Tränen auszubrechen – sollten wir ruhig und bestimmt sagen „Ich fände es sehr schade, wenn ich Dich nicht wieder sehen würde, denn ich liebe Dich. Aber ich gebe Dir jetzt trotzdem keine € 100 oder fahre Dich abends nachhause, obwohl Du mit der U-Bahn genau 10 Minuten nachhause ihren kannst.“
Vielleicht knallt dann trotzdem die Tür oder die Wohnung wird mit einem unfreundlichen Wort verlassen. Aber das gibt sich wieder. Wenn wir lernen, Grenzen zu setzen und bei den folgenden Konflikten nicht sofort in Tränen ausbrechen, sondern erwachsen darauf reagieren, dann lernt auch unser Kind etwas. Und das sollten wir. Wenn wir unsere erkrankten Kinder wirklich unterstützen wollen, dann tu wir das nicht, in dem wir uns aufopfern, um jedem Streit aus dem Weg
zu gehen, sondern in dem wir ihnen mit unserem erwachsenen Verhalten ein Vorbild sind. Sie dürfen auch mal sauer werden. Das ist ihr gutes Recht. Sie haben es ja auch wirklich nicht immer leicht. „Das musst Du dann einfach mal aushalten, Mami!“ sagte meine coole Tochter vor Jahren.

Und es stimmt: Wenn man sich mal vor Augen gehalten hat, dass ein bisschen Streit oder sogar ein lauter Krach nicht das Ende der Welt ist, dann merkt man, dass das mit den Grenzen immer einfacher wird. Vor allem sollten wir uns nicht von dem Vorwurf egoistisch zu sein, in die Schranken weisen lassen. Was sagte eine meiner Freundinnen damals in meiner frauenbewegten Zeit „Wenn  Dir jemand sagt, Du seist egoistisch, dann bist Du auf dem richtigen Weg!“

 

 

 

Über Janine Berg-Peer

Wir bieten monatlich kostenlose Online-Gruppen für Angehörige an. Jeder kann sich anmelden. Termin finden Sie weiter oben im Blog. Alle zwei Monate bieten wir auch englische Online-Gruppen an. Janine: Seit 65 Jahren bin ich Angehörige: Meine Mutter litt an einer bipolaren Erkrankung und meine Tochter erhielt vor 28 Jahren die Blitzdiagnose (zehn Minuten) Schizophrenie. Kurz danach einigten die Profis sich darauf, dass sie an einer bipolaren Erkrankung leidet. Wir hatten gemeinsam schlechte, aber mehr gute Zeiten. Selten sind Menschen mit Krisengefährdung ja immer krank. Henriette: Heute "leide" ich gar nicht mehr an meiner bipolaren Erkrankung. Nein, sie ist nicht weg, aber mir geht es gut mit einer kleinen Dosis an Medikamenten und einem sozialen und sozialpsychiatrischen Netzwerk, das mich stützt. Ich arbeite seit über zehn Jahren als Genesungsbegleiterin, zunächst als ambulante Betreuerin, jetzt seit drei Jahren im Krankenhaus, was mir sehr viel Spaß macht. Dazu gehören auch Workshops mit Polizei, Angehörigen oder auch Pflegeschüler:innen. Gemeinsam unterstützen wir jetzt sei drei Jahren Angehörige. Wir berichten von unseren guten und schlechten Erfahrungen und beraten sie oder geben ihnen Hinweise, die sie übernehmen können oder eben nicht. Ich als Betroffene freue mich schon lange wieder am Leben, an meiner Arbeit, meinen Freund:innen und an meinem Kater Giacometti. Ich lese gern, höre sehr gern Musik und liebe Filme. Janine: Auch ich freue mich trotz allem immer noch am Leben, lese viel, liebe meinen Kater Basquiat, Rosen, Opern und Countertenöre, japanische und koreanische Filme . Gemeinsam schreiben wir an unserem neuen Buch für Angehörige, in dem wir versuchen, ihnen besser verständlich zu machen und warum manche Betroffene tun, was sie tun und wie Angehörige sich Graf einstellen können, um möglichst viele nutzlose Konflikte zu vermeiden. Arbeitstitel bislang: "Mensch Mama, mach Dir nicht ständig Sorgen um mich!"

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