Janine Berg-Peer/ Mai 18, 2020/ Alle Artikel, Angehörige, Empfehlungen/ 0Kommentare

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Wir Angehörigen psychisch Erkrankter können Krise

Alle jammern über die Krise. die einen dürfen nicht raus (die Alten), die anderen dürfen nicht rein (kleine Kinder und Schüler). Andere können es nicht ertragen, dass der Biergarten geschlossen ist, Mütter sind überfordert mit Kindern und Home-Office und viele Leute verlieren ihre Existenz, weil sie entweder gar nichts verdienen oder weil sie nicht auftreten oder arbeiten können, oder weil wegen ihres niedrigen Verdienstes auch das Kurzarbeitergeld den Alltag für die Familie sehr, sehr schwierig macht. Ja das zeichnet eine Krise aus, sie ist jetzt schwer zu ertragen, viele müssen auf vieles verzichten, was für sie existenziell wichtig ist, und manche müssen auf vieles verzichten, was ihn sehr viel Spaß gemacht und damit zur Lebensqualität beigetragen hat.

Wir Angehörigen psychisch Erkrankter können Krise

Für uns Angehörige von psychisch Erkrankter ist das anders: Wir können Krise. Ob Angehörige, die schon seit vielen Jahren mit den Krisen ihrer erkrankten Kinder umgehen, oder für Angehörige, die sich zum ersten Mal fragen ob die „merkwürdigen“ Verhaltensweisen des eigenen

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Kindes tatsächlich nur auf die Pubertät zurückzuführen sind oder ob es sich vielleicht doch um eine psychische Krankheit handelt. Krisen bringen Aufregung mit sich. Oft auch Angst und viele Sorgen. Das kennen wir Angehörigen, manche von uns über Jahre, ich zum Beispiel seit 23 Jahren, manche seit über 30 Jahren. Aber obwohl wir Krisen-erprobt sind, bringt die aktuelle Krise für uns doch noch wieder zusätzliche Belastungen mit sich. Wir merken, dass unseren Kindern die aktuelle Situation Angst macht, sie nervöser werden, aufgeregter oder vielleicht auch depressiver. Das macht uns wieder Angst, und wir fragen uns, wie das noch werden wird, wenn die Krise noch lange anhält. Wir wissen aus unserer langen Erfahrung, dass die Schwierigkeiten eines psychisch Erkrankten nicht sofort aufhören werden, wenn die Krise vorbei ist, wenn die Schulen und Biergärten wieder geöffnet sind. Oder, was für uns und unsere Kinder noch wichtiger ist, wenn Ärzte, Ergotherapeuten, Psychotherapeuten, Sozialarbeiter, Tageskliniken und Krankenhäuser wieder geöffnet haben.

Wir Angehörigen psychisch Erkrankter können Krise

Wenn sich bei einem unserer Kinder wieder einmal eine Krise angekündigt hat, wenn wieder psychotische Symptome auftauchen, eine Manie ausgebrochen ist oder unser Kind immer

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depressiver wird, es dauert. Es kann Wochen oder Monate dauern, bis sie aus dieser Krise wieder herauskommen. Und wenn unser Kind in einer Krise ist, dann sind wir auch in einer Krise, obwohl uns Ärzte und Psychotherapeuten immer wieder sagen, dass wir doch endlich loslassen sollten und uns nicht so viele Sorgen machen sollten. Leider sage auch ich das ständig zu Angehörigen, die um meinen Rat bitten. Ich habe darüber auch in meinen Büchern geschrieben. Ich weiß, dass es wichtig ist, los zu lassen, Grenzen zu setzen, mit den Sorgen aufzuhören, weil doch Sorgen überhaupt nichts bringen. Aber mir fällt es selbst auch oft schwer, mir keine Sorgen zu amchen. Da können wir nur von unserer Bundeskanzlerin lernen, die neulich zitiert wurde mit dem schönen Satz „Wenn es etwas brächte, wenn ich mich aufrege, dann würde ich mich auch aufregen.“ Ja, mich hat dieser Satz auch etwas zum Lachen gebracht. Aber dann habe ich mir gedacht, dass dieser Satz doch eigentlich zeigt, dass man sich mit der menschlichen Psyche

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nicht besonders gut auskennt. Es mag ja für eine Physikerin so sein, dass sie nur Gefühle hat, die auch etwas bringen. Aber für die meisten Leute ist es – leider – so, dass Gefühle auch dann hochkommen, wenn sie nichts bringen.

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Ich werde jetzt häufiger als sonst angerufen von Müttern – es sind fast immer die  Mütter –, die sich gerade in einer Phase befinden, in der sie wichtige Entscheidung treffen müssen. Soll ich weiter den Kontakt mit meinem Kind halten, obwohl ich es nicht mehr aushalten kann, wenn er/sie ständig anruft, ständig vor der Tür steht oder gar nicht erst ausziehen will? Eigene Wohnung? Schon normalerweise schwierig für den kleinen Geldbeutel. Aber in der Krise? Kann der Sozialpsychiatrische Dienst in der Krise helfen? Kaum, denn viele dort sind im Home-Office, entweder, weil sie ihre kleinen Kindern nun zuhause betreuen müssen oder weil sie inzwischen schon in einem Alter oder einer körperlichen Situation sind, die sie zur Hochrisikogruppe machen. Soll ich meinem Kind weiterhin Geld geben, obwohl ich den Eindruck habe, dass egal wie viel Geld ich gebe, es am nächsten Tag immer schon wieder ausgegeben ist? Aber ich habe doch so viel Angst, dass er sie nichts zu essen hat nichts zu rauchen hat, aus der Wohnung fliegt, vielleicht sogar obdachlos wird! Was ist richtig?

Wir Angehörigen psychisch Erkrankter können Krise

Ich mache mir doch so viele Sorgen, weil er/sie ständig alleine ist und sich wahrscheinlich einsam fühlt! Aber unsere psychisch Erkranken sind oft auch außerhalb der Corona Krise schon oft einsam. Und weil das so ist, versuchen wir alles, um unsere Kinder nicht einsam sein zu lassen. Wir lassen sie anrufen, so oft sie wollen, wir treffen uns mit Ihnen, wann immer sie es wollen, sie dürfen bei uns wohnen, obwohl sie Chaos in der Wohnung anrichten. Aber das müssen wir ertragen, weil unsere

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Kinder ja in der Krise sind. Ich muss oft lachen, wenn vielen Menschen heute geraten wird, es in der Krise nicht dazu kommen zu lassen, dass sie einsam sind. Sie sollten mit Nachbarn kommunizieren, mit Kindern oder Enkeln oder Freunden über Skype oder Zoom in Kontakt bleiben, auch WhatsApp- Gruppen können gegen Einsamkeit helfen.

Wir Angehörigen psychisch Erkrankter können Krise

Uns muss man das nicht sagen. Wir kennen das mit der Einsamkeit. Menschen, die einen psychisch erkrankten Menschen in ihrer Familie haben, werden ohnehin einsam. Die eigene Familie und viele Freunde wenden sich ab, laden uns nicht ein oder wollen uns nicht besuchen, weil unser Kind einfach so schrecklich schwierig ist. Und allein lassen wollen wir

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das Kind auch wieder nicht. Selbst, wenn das Kind inzwischen schon weit über 40 Jahre alt ist! Die Aufforderung, uns darum zu kümmern, dass wir nicht einsam sind, brauchen wir nicht. Oft sind wir –auch vor der Corona-Krise – selbst dermaßen erschöpft von unserem unentwegten Krisenmanagement, dass wir gar nicht so sehr das Bedürfnis nach sozialen Kontakten haben, weil wir froh sind, abends einfach mal auf dem Sofa zu liegen und ein oder zwei Stündchen unsere Ruhe zu haben. Auch wenn wir uns schon lange darauf eingerichtet haben und einigermaßen mit der Situation klarkommen; die Krise bringt für uns noch einmal neue Herausforderungen. Weil alles was vorher schwierig war, jetzt noch einmal doppelt schwierig wird. Wir dürfen sie nicht in der Klinik oder in ihrem betreuten Wohnen besuchen, sie dürfen oft auch nicht nach draußen. Wenn wir selbst inzwischen zur Hochrisikogruppe gehören – wie ich mit 75 Jahren -, dann wollen wir auch nicht, dass sie uns besuchen, denn – ihr wisst schon, der Virus. Oder heißt es das Virus? Habe ich schon darauf hingewiesen, dass es schwierig ist, eine Krankschreibung oder

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ein neues Rezept für das dringend benötigte Medikament zu bekommen, weil auch der Arzt geschlossen hat? Und weil das Kind (!) durch alles das schon total entmutigt ist, machen wir uns auf den Weg und fahren zu Arztpraxen oder Kliniken, um dann eben doch das Rezept zu bekommen.

Wir Angehörigen psychisch Erkrankter können Krise

Die Leute beschweren sich, weil die Biergärten geschlossen sind? Sie beschweren sich, weil sie einen Mundschutz tragen sollen? Sie beschweren sich, weil sie nicht nach Mallorca fahren können? Das sind wirklich Probleme. Es hat in den letzten Wochen ab und zu Momente gegeben, wo ich froh war, dass ich seit 23 Jahren auf ein Leben im Krisenmodus eingestellt bin. Mir hat das alles nicht so viel ausgemacht. Ich habe ohnehin keinen großen Bekanntenkreis mir, weil ich ja durch meine Tochter immer gut ausgebucht war. Theater, Kino,

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Museumsbesuch, Restaurant waren ohnehin meistens gestrichen, weil ich zu müde war. Oder weil ich oft das Gefühl hatte, dass ich mich doch nicht amüsieren dürfe, wenn es meiner Tochter schlecht ging.

Wir Angehörigen psychisch Erkrankter können Krise

Ich komme auch mit der Krise gut klar. Ich bin inzwischen gern allein zuhause, kann lesen oder schreiben oder schöne  Filme ansehen. Mit meiner erkrankten Tochter und den anderen Kindern und Enkeln whatsappe oder skype oder telefoniere ich. Das geht. Bei vier Kindern ist das schon ziemlich viel Aktivität. Manchmal sogar zu viel.

Liebe Angehörige, lassen Sie sich durch die Corona-Krise bitte nicht zusätzlich stressen. Sie haben schon so viel mitgemacht, so viel geleistet, so viel für ihr Kind oder ihre Kinder getan und oft dabei gleichzeitig gearbeitet, einen Haushalt in Ordnung gehalten, weitere Kinder versorgt und

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waren vielleicht  auch noch gute Lebenspartner oder Lebenspartnerinnen. Da wird Sie die Corona-Krise nicht umwerfen. Egal, ob die Biergärten geöffnet oder geschlossen sind. Sie können nichts dagegen tun, dass die Krankenhäuser geschlossen oder die Kinder nicht aus ihren Wohnungen herauskommen, weil sie draußen Angst haben. Halten Sie durch und denken Sie selbst in dieser zusätzliche Corona-Krise daran, dass auch Ihr Wohlbefinden wichtig ist. Sehr wichtig sogar, würde ich sagen. Vielleicht gibt Ihnen die Corona-Krise sogar ein bisschen eine Ruhepause, weil sie keine Besuche machen können oder auch keine Besuche zuhause erlauben dürfen? Das darf man

Sofa zum Zuhören

natürlich nicht laut sagen, weil das jetzt wieder so egoistisch klingt. Aber Sie wissen, was ich immer sage: Selbstfürsorge ist kein Egoismus!

Und vielleicht lernen wir von Angela Merkel und machen uns einfach keine Sorgen mehr, weil, wie sie richtig sagt, Sorgen einfach überhaupt nichts bringen.

Über Janine Berg-Peer

Wir bieten monatlich kostenlose Online-Gruppen für Angehörige an. Jeder kann sich anmelden. Termin finden Sie weiter oben im Blog. Alle zwei Monate bieten wir auch englische Online-Gruppen an. Janine: Seit 65 Jahren bin ich Angehörige: Meine Mutter litt an einer bipolaren Erkrankung und meine Tochter erhielt vor 28 Jahren die Blitzdiagnose (zehn Minuten) Schizophrenie. Kurz danach einigten die Profis sich darauf, dass sie an einer bipolaren Erkrankung leidet. Wir hatten gemeinsam schlechte, aber mehr gute Zeiten. Selten sind Menschen mit Krisengefährdung ja immer krank. Henriette: Heute "leide" ich gar nicht mehr an meiner bipolaren Erkrankung. Nein, sie ist nicht weg, aber mir geht es gut mit einer kleinen Dosis an Medikamenten und einem sozialen und sozialpsychiatrischen Netzwerk, das mich stützt. Ich arbeite seit über zehn Jahren als Genesungsbegleiterin, zunächst als ambulante Betreuerin, jetzt seit drei Jahren im Krankenhaus, was mir sehr viel Spaß macht. Dazu gehören auch Workshops mit Polizei, Angehörigen oder auch Pflegeschüler:innen. Gemeinsam unterstützen wir jetzt sei drei Jahren Angehörige. Wir berichten von unseren guten und schlechten Erfahrungen und beraten sie oder geben ihnen Hinweise, die sie übernehmen können oder eben nicht. Ich als Betroffene freue mich schon lange wieder am Leben, an meiner Arbeit, meinen Freund:innen und an meinem Kater Giacometti. Ich lese gern, höre sehr gern Musik und liebe Filme. Janine: Auch ich freue mich trotz allem immer noch am Leben, lese viel, liebe meinen Kater Basquiat, Rosen, Opern und Countertenöre, japanische und koreanische Filme . Gemeinsam schreiben wir an unserem neuen Buch für Angehörige, in dem wir versuchen, ihnen besser verständlich zu machen und warum manche Betroffene tun, was sie tun und wie Angehörige sich Graf einstellen können, um möglichst viele nutzlose Konflikte zu vermeiden. Arbeitstitel bislang: "Mensch Mama, mach Dir nicht ständig Sorgen um mich!"

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