Ihr Wunsch sei es, dazu beizutragen, „den Informationsstand innerhalb der Gesellschaft zu erhöhen“. So steht es in der Projektbeschreibung, mit der Sandra Forrer sich und ihr Kunstprojekt „In Between“ Ende 2016 beim wildwuchs Festival bewirbt. Das Festival bietet für Forrer die ideale Plattform: In Zusammenarbeit mit den Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel will wildwuchs unsichtbare Mauern abtragen, die in vielen Köpfen noch immer zwischen der Welt der „Normalen“ und der, der „Verrückten“ stehen.
„Ein entspannter Umgang von Betroffenen und Angehörigen mit einer psychischen Krankheit erhöht die Lebensqualität auf beiden Seiten entscheidend“, erklärt die 36-jährige Künstlerin. „Einen verstauchten Knöchel verschweige ich ja auch nicht, wenn man mich fragt, warum ich hinke. So sollte das mit psychischen Krankheiten auch sein, finde ich“. Für manche mag diese Forderung, man verzeihe die Wortwahl: wahnsinnig viel verlangt erscheinen. Aber Sandra Forrer weiss sehr genau, wovon sie redet.
Mit etwa sieben Jahren bekamen sie und ihre Angehörigen das erste Mal zu spüren, welche Macht die Psyche über einen Menschen hat: Plötzlich verstummte das bisher kontaktfreudige, gut gelaunte Kind und wollte am liebsten das Haus nicht mehr verlassen. Ein knappes Jahr lang ging das so, während dem ein Kinderpsychiater sich mit Forrers Veränderung beschäftigte. „Pubertas Praecox“ wurde diagnostiziert, ein verfrühtes und viel zu heftiges Einsetzen pubertärer Hormonschübe. Nach einem Jahr ging es ihr zwar wieder besser, aber ihr Arzt warnte die Eltern schon mal vor: „Es kann sein, dass ihre Tochter Teenie-Probleme bekommt“.
So kam es – bloss waren es keine gewöhnlichen „Teenie-Probleme“. Forrer hatte stets auf die Anzeichen ihrer krankhaften Angstzustände geachtet – und bekam so nicht mit, wie sie es mit der morbiden Verwandten ihrer Panik zu tun bekam: Nach und nach schlitterte sie in die Depression. Da war sie 14.
„Ich fühlte mich wertlos, machte mich selber fertig, kam mir lächerlich vor und hatte das Gefühl, niemanden damit belasten zu dürfen“, schildert sie diese Zeit. Ihr damaliger Freund bekam am meisten von ihrer Krankheit mit. Als Sandra wieder mal vom Unterricht abgehauen war, um bei ihm Unterschlupf zu finden, informierte er ihre Eltern. Ohne seine intervenierende Hilfe, hätte sie vermutlich noch lange auf Behandlung und damit: auf Besserung gewartet. Es folgt die nächste Behandlung. Und Medikamente.
Ein Mensch mit psychischer Erkrankung hat es doppelt schwer: nicht nur die richtige Medizin muss er unter Dutzenden Präparaten finden – auch die oder den richtigen Therapeut*in. Die persönliche Beziehung, das Vertrauen in und der Draht zu dem behandelnden Menschen ist gleich wichtig wie die Wirksamkeit der künstlich zugeführten Moleküle.
Als Sandra Forrer ihre Erfolgskombination endlich gefunden hat, wendet sich das Blatt. Mit den Medikamenten lernt sie, was normale Stimmungsschwankungen sind. Und ist verblüfft: „Plötzlich begriff ich: ach, das meinen die, wenn sie schlechte Laune sagen? Okay. Easy. Natürlich kann ich damit auch leben“.
Ein guter Teil des Gesprächs mit Sandra Forrer dreht sich um Akzeptanz. Darum, wie wichtig es ist, anzuerkennen, dass man eine psychische Erkrankung hat, die einen voraussichtlich ein Leben lang begleiten wird. „Das bleibt vielleicht so. Ich lebe jetzt trotzdem damit“, beschreibt Forrer diesen langwierigen Prozess in kurzen Worten.
Den Mut dazu aufzubringen, ist nicht einfach. „Bestimmte Aspekte der Krankheit habe ich aus ganz praktischen Gründen in meinen Alltag integriert“, schildert sie. Irgendwann sei es ihr einfach zu kompliziert geworden, im Büro jedes Mal auf dem Klo zu verschwinden, wenn ihr die Tränen kamen. Also hat sie die Kolleginnen und Kollegen eingeweiht und ist an ihrem Platz geblieben, wenn es wieder losging. Diese neue Offenheit im Umgang mit ihrer Störung erlebt Forrer als Wendepunkt.
Ihre Angst, vom Umfeld nicht ernstgenommen zu werden, bestätigt sich nicht. „Selbst Freunde, Kollegen und Bekannte mit massiven Berührungsängsten haben einen Umgang gefunden mit dem Thema“, berichtet sie. Oft sei es nur ein einfaches, klärendes Gespräch, an dessen Ende simple Erkenntnisse stünden. „Ach, dann ist es in dem Fall hilfreich, wenn ich Dich anrufe in so einer Situation?“, staunte eine Kollegin, die sich mit ihrer Anteilnahme nicht aufdrängen wollte.
„Der sprachloseste, hilfloseste Mensch kann in einer psychischen Krise die Rettung sein – wenn er einfach nur bleibt“, erzählt Forrer. Nicht allein zu sein, das sei lebens- und oft auch überlebenswichtig. „Es gibt nicht die Vorgehensweise im Umgang mit psychisch Kranken – jede Krise ist immer mit einem Menschen verbunden. Man kann nur gemeinsam rausfinden, was in so einer Situation zu tun ist. Es geht also eigentlich nur darum, für den Moment eine Lösung zu finden“, meint sie.
Das potentielle Umfeld von Menschen mit einer psychischen Erschütterung zu erreichen, ist ein Ziel der 1980 in Schaffhausen geborenen Wahl-Bernerin. Auch in ihrem Projekt „In Between“ geht es darum. In ihrem Dossier schreibt sie dazu:
Psychische Erkrankungen sind auch heute noch ein Tabuthema und bringen neben dem eigentlichen Leiden eine Reihe an Schwierigkeiten im Umgang damit mit sich. Betroffene haben Angst, darüber zu reden, fühlen sich isoliert oder unverstanden. Angehörige fühlen sich ohnmächtig und überfordert und leiden oft ohne Betreuung indirekt mit. Der Gang in eine psychiatrische Einrichtung, sei es nun für einen Klinikaufenthalt oder einen Krankenbesuch, ist auch heute noch für Viele eine grosse Hürde. Durch die Begegnung mit diesem vorbelasteten Ort sollen Berührungsängste abgebaut werden.
Forrers installatives Theaterprojekt „In Between“ fordert die Wahrnehmung des Innen und Aussen im Zusammenhang mit psychiatrischen Erkrankungen heraus. Forrer nutzt für ihre Raum-Hör-Installation Interviews zwischen einer von psychischen Störungen Betroffenen und deren sozialem Umfeld.
Die inszenierte Begegnung einer betroffenen Person und ihrem Umfeld bietet den BesucherInnen von In Between die Möglichkeit, in die jeweils unterschiedlichen Rollen zu schlüpfen. Die ZuhörerInnen können sich in die Sprechenden und die situative Hörwelt hinein denken und sich so selbst ein Bild kreieren. Die BesucherInnen erhalten die Möglichkeit, ihnen als Teil der fingierten sozialen Situation vermeintlich beizuwohnen. Sie hören, was man ihnen sagen könnte, wären sie an Stelle der bzw. des Betroffenen und sie erfahren auch, was sie zu hören bekämen, wären sie beispielsweise die Mutter oder der Arbeitgeber einer psychisch erkrankten Person.
Aufgenommen werden die Gespräche dort, wo sie später vom Publikum angehört werden können: in der Mensa der Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel. Man nimmt also Platz an genau dem Tisch, an dem das zu erlebende Gespräch tatsächlich geführt wurde.
Zunächst wollte Forrer jemand Externen interviewen. Schlussendlich entschied sie sich dazu, selbst am Tisch Platz zu nehmen und sich der Auseinandersetzung mit Freunden, Verwandten und Kolleginnen zu stellen. „Alles in allem verliefen die Gespräche schon in etwa so, wie ich es mir erwartet hatte. Aber es gab doch auch ein paar Überraschungen“, erzählt sie.
Besonders nachdenklich gemacht habe sie, dass ihre Gesprächspartner die Patientin Forrer in der Krise stets als sehr kompetent und weit entfernt von irgendwelchen Verzweiflungstaten erlebt hätten. „Ich habe 10.000 Mal in meinem Leben über Suizid nachgedacht. Dass das niemand in meinem Umfeld mitgekriegt hat, bedeutet, dass ich die anderen vor zu viel Belastung schütze. Einerseits ist das schön und sehr empathisch. Andererseits aber eben auch genau der Punkt, an dem es kritisch werden kann“.
Der Suizid als vermeintlich letzter Ausweg aus dem Leiden – für Forrer ist das kein Tabuthema, sondern ein gängiges Symptom diverser psychischer Erkrankungen. „Ich glaube, das ist sehr individuell, wie ein Mensch mit diesem Thema umgeht. Bei mir war es die Empathie denen gegenüber, die mit dem durch die Tat ausgelösten Schmerz hätten leben müssen, die mich abgehalten hat. Nicht irgendeine Willensstärke“.
Die Leichtfertigkeit, die sie beim Rest der Welt mitunter ausmache, habe sie nicht. „Aber die will ich auch gar nicht haben“, sagt sie. Der existenzielle Mut, den sie in der Auseinandersetzung mit ihrer Krankheit gewonnen habe, sei etwas Tolles. „Ich frage mich manchmal: war ich immer schon so belastbar oder bin ich es durch die Krankheit erst geworden?“, erzählt sie.
Jede Krise, und sei sie noch so lang und noch so dramatisch, hat also ihre guten Seiten. Jedenfalls dann, wenn man es schafft, sie zu überstehen. Forrer formuliert das so: „Mit der psychischen Ausstattung, wie ich sie habe, ist es schon etwas zeitaufwändiger, sich zu finden und die eigenen Stärken und Schwächen zu sortieren. In der Depression findest du tendenziell alles an dir zum Kotzen. Wenn Du aber mal gelernt hast, mit Deiner Krankheit zu leben, hast du die Chance, zu begreifen, dass du die meisten deiner Eigenschaften sowohl konstruktiv als auch destruktiv einsetzen kannst“.
„Drüber reden hilft“, lautet Forrers Devise, die sowohl im Interview als auch in ihrem Projekt eine wesentliche Rolle spielt. Um akzeptiert zu werden, helfe es, sich mitzuteilen und zu seiner Krankheit zu stehen. Das sei mit das Wichtigste für sie gewesen, um mit ihrer affektiven Störung leben zu lernen. „Mittlerweile gehe ich auch komplett verheult im COOP einkaufen“, erzählt Forrer leicht amüsiert von ihren Fortschritten.
„Es hat viel Arbeit gekostet, mir den aktuellen Grad an Lebensqualität zu erkämpfen. Wenn Du diese Krankheit überlebst , erscheint dir vieles andere als ziemlicher Pipifax“. Mitunter falle es ihr schwer, alltägliche Nichtigkeiten anderer für voll zu nehmen. Auf die Frage, inwieweit sie Stigmatisierung fürchte, antwortet sie: „Klar, ich will mir nix verbauen. Aber als freischaffende Künstlerin ist das eh schwierig. Und was jemand über mich denkt, der mich nicht kennt – scheiss drauf“.
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Sandra Forrer (*1980 Schaffhausen)
Die heute in Bern lebende Künstlerin wurde im Alter von sieben Jahren zum ersten Mal mit einer psychischen Störung konfrontiert. Der Kinderpsychiater diagnostizierte „Pubertas Praecox“ – ein verfrühtes, heftiges Einsetzen der Pubertät, das nach einem Jahr verschwand und in Forrers vierzehntem Lebensjahr als Depression wiederkehrte. Seither lebt die Künstlerin mit der Krankheit. Stationäre Behandlung, Medikamente und Gespräche mit Psychiatern und ihrem Umfeld halfen und helfen ihr, mit Depressionen und Angstzuständen zu leben. Sie hat Theaterwissenschaften, Germanistik und Philosophie studiert und arbeitet heute als erfolgreiche Künstlerin, Dramaturgin, Autorin und Regisseurin. Seit 2004 produziert sie mit Sibylle Heiniger (Produktion HEINIGER/FORRER) zeitgenössisches Theater. 2013 erhielt Sandra Forrer das Off Stage-Stipendium des Kantons Bern. Bei wildwuchs ist ihr Projekt „In Between“ ab dem 10. Juni im Rahmen des UPK-Parcours zu sehen.
Verena
Eindrücklich.
Ich denke, wenn du diese Tiefs „überlebst“ und nicht allein gelassen wirst, hast du nachher selber die Kraft, anderen zu helfen.
christianhansen
Hi Verena,
Da sagst Du, denke ich, etwas sehr Wahres. Aus diesem Grund gibt es in der Psychiatrie ja mittlerweile Ansätze wie den der Peers. Da kümmern sich Erfahrene um akute Patientinnen und Patienten. Das funktioniert scheinbar sehr gut. Und ich kann mir gut vorstellen, warum. Es ist fraglos schwieriger, sich in eine Person mit einer ausgewachsenen psychischen Krise einzufühlen, wenn man selbst diese Dunkelheit nie erlebt hat.